Alasea 01 - Das Buch des Feuers
eingewickelt in Daunendecken. Die Knochen seines Gesichts zeichneten sich scharf unter der Haut ab. Er war jetzt nur noch ein Skelett, seine Kraft wurde von dem rasenden Fieber dahingerafft. Das Gift war bis zu seinem Herzen gelangt, und zwar unmittelbar bevor die Gefährten Krals Zuhause erreicht hatten. Der Schwertkämpfer war auf der Höhe des Passes zusammengebrochen.
Wäre nicht der Og’er Tol’chuk mit seinem breiten Rücken und den kräftigen Beinen bei ihnen gewesen, hätte es Er’ril nicht bis hierher geschafft. Selbst die beiden überlebenden Pferde - Krals Rorschaff und ihre geliebte Nebelbraut - waren zu erschöpft gewesen, um den Kranken sicher über die letzte tückische Strecke des Bergpfads zu tragen. Doch mit Tol’chuks Hilfe gelangte der geschwächte Mann aus der Prärie schließlich zu Krals heimatlichen Höhlen.
Es musste erst ein ganzer Mond vergehen, bis sein Fieber endlich sank. Nur den dampfenden Blättern, die in Töpfen kochten, sorgsam zubereitet von Ni’lahn, sowie Er’rils kräftiger Natur war es zu verdanken, dass sich der Tod so lange von dieser Höhle fern gehalten hatte. Elena hatte viele Nächte lang an seinem Bett gesessen, ihm die Stirn mit kühlem Mineralwasser aus den Tiefen der Höhlen abgewischt, hatte seinem Stöhnen gelauscht und sein zerwühltes Bett glatt gezogen. Einmal hatte er die Augen geöffnet, Elena geradewegs ins Gesicht geblickt und dann geschrien: »Die Hexe wird uns alle töten!« Sie hatte geweint und war aus dem Zimmer gerannt, obwohl seine glasigen Augen ihr verrieten, dass das Gift in seinen Adern ihn verwirrt hatte. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis sie es über sich gebracht hatte, in seine Höhlenkammer zurückzukehren.
An diesem Morgen hatte Elena, nachdem sie Nebelbraut ein Stück getrockneten Apfel zugesteckt hatte, Er’ril besucht und ihn im Bett sitzend angetroffen, in ein Gespräch mit Kral vertieft. Dessen Bein war immer noch geschient, doch mit Hilfe einer Krücke aus Hartholz unter dem Arm konnte er durch die Höhlen humpeln. Der Wolf hatte mit aufgestellten Ohren neben Er’rils Bett gesessen, während die beiden Männer sich unterhielten. Elena hatte immer noch Mühe, in dem Tier einen Gestaltwandler zu sehen, und sie konnte es sich nicht verkneifen, ihn hinterm Ohr zu kraulen und ihm den Kopf zu tätscheln. Das hatte sie auch getan, als sie die kleine Höhlenkammer betreten hatte. Der Wolf hatte mit dem Schwanz gewedelt, und Er’ril hatte sie mit einem Lächeln bedacht. Sein Gesicht war zwar noch blass, aber es zeigte ein Leuchten von Lebenswärme statt der aschfahlen Tönung des Todes. Wiederkehrende Kraft hatte aus seinen Augen gestrahlt.
Elena hatte sein Lächeln schüchtern erwidert, doch nun, in der frischen Luft, war ihr Lächeln befreiter. Er würde am Leben bleiben.
Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie den eisüberkrusteten Pfad hinaufwanderte, der von den geschützten Höhlen zum windgepeitschten Pass der Geister führte. Über den Zahnbergen stiegen die Rauchsäulen der Feuerstellen anderer Bergsippen auf, um den Morgen zu begrüßen. Insgesamt zwölf Feuer zählte sie während ihres Aufstiegs.
Diese Leute hatten ihnen Schutz und ein Versteck angeboten. Der Winter hatte den Pass mit einem heftigen Schneesturm genau zu jenem Zeitpunkt unpassierbar gemacht, als sich die Gruppe in die Sicherheit der Zahnberge geschleppt hatte. Die Gefährten hatten die Absicht, dem Biss des Winters durch einen längeren Aufenthalt bei Krals Sippe zu entgehen: damit ihre Spur für die Hunde von Gul’gotha erkaltete, damit ihre Wunden heilten, damit im Lauf der Zeit die schlimmen Erinnerungen verblassten, die Geist und Körper schwächten, damit sie für eine Weile vergessen und ausruhen konnten.
Sie hatten noch eine lange Reise vor sich, doch niemand sprach darüber. Dies war für eine andere Zeit vorgesehen - eine Zeit, in der die Erinnerungen an jene blutige Nacht endlich ihren Griff um ihre Herzen und Zungen gelockert hätten. Jetzt lebten sie einfach, erfreuten sich an dem wohligen Feuerschein und an der warmherzigen Gesellschaft.
Nur eine einzige Entscheidung war gefällt worden. Wenn das winterliche Eis tauen würde, würden sie alle zusammen mit Elena und Er’ril die Reise nach A’loatal antreten.
Jeder hatte dafür seinen eigenen Grund: Merik wollte die Blutlinie seines Königs bewahren, Ni’lahn die Worte eines sterbenden Propheten ehren, Kral Rache üben, Mogwied und Ferndal wollten einen Fluch durchbrechen, und
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