Alasea 03 - Das Buch der Rache
zwischen…
Nein… hier greife ich mir selbst vor. Nach so vielen Jahrhunderten, den Kopf voller Erinnerungen, habe ich immer öfter das Gefühl, dass ich mich aus dem unvermeidlichen Lauf der Zeit löse. Während ich in diesem gemieteten Zimmer sitze, umgeben von Pergamenten und verschiedenen Tintenfässern, scheint es, als wäre es erst gestern gewesen, dass Elena auf den Blasenbeeren Klippen stand und im Dämmerlicht hinaus auf ihr Drachenheer starrte. Warum wird die Vergangenheit immer wertvoller, je älter man wird? Heute träume ich von den Dingen, vor denen ich einst geflüchtet bin. Ist das der Fluch, den die Hexe meiner Seele auferlegt hat? Zwar ewig zu leben, aber immer nur von der Vergangenheit zu träumen?
Ich nehme die Feder zur Hand, tauche sie in die Tinte und bete, dass sich ihr letztes Versprechen irgendwann bewahrheiten wird. Lasst mich sterben, wenn ich ihre Geschichte zu Ende erzählt habe.
Trotz der Hitze des Tages, die sich noch immer in meinem Zimmer hält, und obwohl sich der Abend draußen bereits abkühlt, verschließe ich das Fenster und mein Herz vor dem fröhlichen Jauchzen und munteren Lärm, der von der Straße heraufdringt. Ich kann keine Geschichte von Blutvergießen und Verrat erzählen, wenn ich draußen das lustige Geklimper des Spielmannes und das wilde Gelächter der Karneval Feiernden höre. Diesen Teil der Geschichte von Elena Morin’stal erzählt man am besten mit kaltem Herzen.
Während also auf den Straßen von Gelph das Fest des Drachen gefeiert wird, bitte ich Sie, tiefer in sich hineinzuhören. Können Sie noch eine andere Musik hören? Wie in vielen großen Sinfonien sind die eröffnenden sanften Akkorde schnell vergessen, wenn die schmetternden Hörner und donnernden Trommeln einsetzen; diese Vergesslichkeit trifft den Komponisten jedoch wie eine Beleidigung, denn mit den ruhigen Klängen wird die Bühne auf den kommenden Sturm vorbereitet.
So leihen Sie mir Ihr Ohr, und lauschen Sie meinen Worten, nicht der Laute oder den Trommeln vor meinem Fenster, sondern der getragenen Musik, die in der morgendlichen Brandung mitschwingt, wenn die Flut mit dem ersten Licht der Sonne zurückgeht. Hier liegt der Anfang des großen Liedes, das ich singen möchte.
ERSTES BUCH
Tiden und Tränen
1
Allein mit den tosenden Wellen stand Elena am Klippenrand und starrte hinaus aufs blaue Meer. Am Horizont zeigten sich die ersten Sonnenstrahlen und krönten die fernen Inseln des Archipels mit einem Glorienschein aus dichtem Dunst. Nahe der Küste kämpfte sich ein einmastiger Fischtrawler durch die Flut und ging zwischen den vielen Inseln und Riffen seiner Arbeit nach. Über den Segeln des Schiffes zankten sich Möwen mit Seeschwalben, die dieselben reichen Fischgründe bejagten. Am Fuß der steilen Klippen wurde das steinige Ufer bereits von den trägen Seelöwen bevölkert. Die schimpfenden Laute, mit denen die Mütter ihre Jungen zurechtwiesen, und das schnaufende Gebrüll des Leitbullen hallten zu Elena herauf.
Mit einem Seufzer wandte sie dem Meer den Rücken zu. Die Seedrachen der Mer’ai waren vor fünfzehn Tagen von dannen gezogen, danach hatte in das Küstenleben schon bald wieder der Alltag Einzug gehalten. Die Natur war eben unverwüstlich.
Eine steife Morgenbrise zauste Elenas Haar und blies ihr eine Strähne ins Gesicht. Ungehalten schob sie mit behandschuhten Fingern die wehenden Haare zurück und versuchte, die wilden Locken hinters Ohr zu klemmen, aber der Wind machte ihre Anstrengungen sofort wieder zunichte. Mehr als zwei Monate lag der letzte Haarschnitt nun schon zurück, den Er’ril ihr verpasst hatte, und nun hatte das Haar eine lästige Länge erreicht. Es war zu kurz, um es mit Bändern hochbinden oder mit Nadeln feststecken zu können, aber eigentlich schon zu lang, um es einfach offen zu tragen, besonders da die Haare sich bereits wieder zu kräuseln begannen. Doch Elena behielt diese Klagen für sich, denn sie fürchtete, dass Er’ril sonst die Schere wieder zur Hand nehmen würde.
Sie runzelte die Stirn bei dem Gedanken. Sie war es leid, immer wie ein Junge aussehen zu müssen.
Sie hatte zwar eingesehen, dass die Verkleidung auf ihrer Reise durch Alasea notwendig war, aber hier draußen in der einsamen Wildnis der Blasenbeeren Klippen gab es keine Augen, die sie ausfindig machen konnten, und sie sah auch keinen Anlass mehr, das Spiel als Er’rils Sohn weiterzuspielen
das redete sie sich jedenfalls ein. Allerdings wusste sie nicht, ob ihr
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