Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
seiner Heilung behalten, auch wenn sie ihn nicht berührte.
Sicher war diesmal das Gleiche geschehen.
Ragnar’k hob schwankend den Kopf und reckte den langen Hals. Seine schwarzen Augen schauten auf sie herab.
Saag wan …?
Der Name drang in ihr Bewusstsein wie eine vertraute Berührung. Aber das war nicht Ragnar’k. »Kast!« Sie stürmte auf den Drachen zu. »Was ist geschehen?«
Sobald ihre Hand die heißen Schuppen berührte, verschwand die Welt in einem Wirbel von Schwingen und Rauch. Wenige Herzschläge später stand Kast im seichten Wasser vor ihr. Ihre Hand lag auf seiner Tätowierung.
Er war nackt und schaute verblüfft auf sie nieder. »Saag wan, was …?«
Erschrocken zog sie die Hand zurück. Sobald sich die Finger von seiner Haut lösten, flammte die Magik wieder auf. Sie wurde ins Wasser zurückgestoßen. Der Drache war wieder da, kauerte schwer atmend, die Schwingen erschrocken gespreizt, vor ihr.
Saag wan runzelte die Stirn. Wie sollte sie das verstehen?
Das Drachenhaupt schwenkte auf sie zu.
»Kast?« fragte sie zaghaft.
]a, ich bin es, kam die Antwort.
Sie berührte die dampfende Schnauze mit der Hand. »Wo ist Ragnar’k? Hat er sich verletzt, als er vom Himmel stürzte?«
Der Drache schüttelte den Kopf, eine sehr menschliche Geste. Nein. Ich spüre ihn überhaupt nicht mehr.
»Bist du sicher? Vielleicht ist er nur bewusstlos.«
Saag wan. Das war Kasts Stimme, streng und entschieden wie immer. Ich habe den Drachen seit mehr als zwei Wintern in mir. Ich weiß, wie er sich anfühlt. Und jetzt ist er nicht mehr da. Er hat mich verlassen.
Saag wan hielt sich die Hand vor den Mund. »Wie ist das möglich?«
Berühre mich, befahl er und streckte ihr den Hals entgegen.
Sie riss sich zusammen, legte abermals die Hand auf die schillernden schwarzen Schuppen und schloss die Augen. Die Magik rauschte wie eine Hitzewelle durch ihren ganzen Körper.
»Saag wan?«
Sie schlug die Augen wieder auf. Vor ihr stand Kast, ihre Hand ruhte auf seiner Wange. Sie wollte sie zurückziehen, aber er hielt sie fest. »Nicht loslassen«, warnte er. »Ich glaube, der Mer’ai Bann hat sich ins Gegenteil verkehrt. Deine Berührung versetzt mich nicht mehr in die Drachengestalt hinein, sondern holt mich aus ihr heraus. Lass deine Hand, wo sie ist.«
Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Sie schmiegte sich an ihn. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen.
»Was ist passiert?« fragte er.
Sie erzählte ihm von dem leeren Hafen und wie sie vor dem Parasiten im Tor geflüchtet waren. »Wir wollten zum Schiff zurück.«
»Ist das alles?«
Saag wan schüttelte den Kopf. »Nein. Scheschons Blume …« Sie warf einen Blick zum Strand. Die rötlich violette Blüte lag noch an der gleichen Stelle im schwarzen Sand. »Scheschon hatte einen Traum und wollte, dass Rodrickos Blüte in den Rauch gehalten würde, der vom Berg aufsteigt.«
»Wieso?« Kast runzelte die Stirn.
»Ich weiß es nicht es hat wohl damit zu tun, dass sie Hant helfen will. Meister Edyll hielt es für wichtig, führte es auf ihre hellseherischen Fähigkeiten zurück. Und da wir sowieso hierher fliegen wollten …« Sie hielt sich die Hand vor die Augen. »Wir hätten es gar nicht erst versuchen sollen.« Sie schilderte ihm den letzten Flug des Drachen, den brennenden Rauch, den Sturz vom Himmel.
Kast nahm ihre Hand in die seine, sie schlenderten wie ein Liebespaar den Strand entlang, und er holte die Blüte aus dem schwarzen Sand.
Saag wan hatte erwartet, nur noch versengte Fetzen vorzufinden, aber die violetten Blütenblätter hatten sich geöffnet, der feurige Kelch lag frei. Die ganze Blüte glühte wie ein Stück Kohle im Feuer. »Sie ist voll erblüht«, sagte sie überrascht.
Kast fand das nicht so verwunderlich. Er sah ihr in die Augen, tiefe Falten gruben sich in seine Stirn.
»Was hast du?« fragte sie.
»Du … Du bist nicht besessen.«
Sie blinzelte, dann begriff sie, was er meinte. In ihrer Angst um Ragnar’k war ihr völlig entgangen, dass das Simaltrum keinen Einfluss mehr auf sie ausübte. Staunend strich sie sich über die Stirn. Sie war immer noch ihr eigener Herr. Sie suchte in ihrem Bewusstsein nach Spuren des bösartigen Tentakelwesens. Wo vorher noch ein Stück greifbarer, eisig kalter Finsternis hinter ihren Augen gelauert hatte, spürte sie nichts mehr. Wie war das möglich? Sie erwiderte den misstrauischen Blick ihres Liebsten. »Es ist fort. Ich fühle es nicht mehr in mir.«
Doch das genügte nicht,
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