Albert Schweitzer
regelmäßig auf seinen Schreibtisch.
Eine belanglos scheinende, für Alberts Verhältnis zur gestrengen Tante Sophie jedoch wichtige Episode soll nicht unerwähnt bleiben. Albert litt in seiner Mühlhausener Zeit sehr darunter, sich von der so geliebten Natur des heimischen Münstertales abgeschnitten zu fühlen. An einem sonnigen Frühlingsnachmittag bemerkte Tante Sophie, wie der Junge sehnsüchtig seinen Blick zum Fenster hinaus in die Weite schweifen ließ. Sie spürte, was diese stumme Geste zu bedeuten hatte, durchbrach das strenge Alltagsreglement und unternahm mit dem heimwehkranken Neffen einen langen, bis in die Abendstunden dauernden Spaziergang. Durch diese feinfühlige Reaktion änderte sich das Verhältnis zur sonst so disziplinierenden Tante: „Ich wusste jetzt, dass die Frau, die mich so streng, ja manchmal pedantisch streng erzog, Herz hatte und meine Sehnsucht verstand.“ Albert Schweitzer zollte dem fürsorglichen Ehepaar später in seinen autobiografischen Aufzeichnungen tiefen Dank für die liebevoll-strenge Betreuung, die er während seiner Gymnasialzeit durch die beiden erfahren durfte.
Schulisch lief während dieser Zeit zunächst gar nicht alles glatt. Im Gegenteil: Mit seinen anfänglich schlechten Zeugnissen bereitete Albert den besorgten Eltern viel Kummer. Einmal wurde der Vater gar wegen der schlechten schulischen Leistungen zum Direktor geladen, der ihm nahelegte, den verträumten und offensichtlich überforderten Knaben von der Schule zu nehmen. Die Bitte des Vaters, dem Jungen noch eine Chance zu geben, fand zum Glück beim Direktor Gehör. Und dieses Glück setzte sich fort, als Albert kurz darauf einen neuen Klassenlehrer bekam, der für den bis dahin schwachen Schüler zum „Retter“ wurde. Sein Name war Dr. Wehmann. Er wurde Albert dadurch zum Vorbild, dass er sich als ein äußerst gewissenhafter und einfühlsamer Lehrer erwies, dessen Unterrichtsstunden stets sorgfältig vorbereitet waren. Seine Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit färbte auf den bis dahin erfolglosen Schüler ab. „Diese miterlebte Selbstdisziplin wirkte auf mich. Ich hätte mich geschämt, diesem Lehrer zu missfallen. Er wurde mein Vorbild.“ Unter dem pädagogischen Einfluss des neuen Lehrers mauserte sich Albert innerhalb weniger Monate zu einem der besseren Schüler.
Schweitzer hielt über seine Schulzeit hinaus in dankbarer Verehrung Kontakt zu diesem für ihn so vorbildlichen Lehrer, besuchte ihn gelegentlich. Als er nach seinem ersten Afrika-Aufenthalt am Ende des Ersten Weltkriegs Dr. Wehmann aufsuchen wollte, musste er zu seinem tiefen Bedauern erfahren, dass dieser, durch dieEntbehrungen und Wirren des Krieges nervenkrank geworden, sich das Leben genommen hatte. Der begnadete Lehrer hatte Schweitzer eine dauerhafte Lehre mit auf den langen Lebensweg gegeben: „Dass tiefes und bis ins Kleinste gehendes Pflichtbewusstsein die große erzieherische Kraft ist und vollbringt, was keine Reden und keine Strafen ausrichten können, ist mir durch ihn eine Lehre geworden, die ich in meinem Wirken als Erzieher zu betätigen suchte.“
Wenn von Lehrern in der Jugend Schweitzers die Rede ist, darf der Name seines ersten bedeutenden musikalischen Mentors nicht übergangen werden: Eugen Münch, Organist der reformierten Stephanskirche in Mühlhausen. Auch diesem Musiklehrer bereitete Albert anfänglich nur wenig Freude („Albert Schweitzer ist meine Qual“). Münch beklagte das „hölzerne“ Spiel seines Schülers, und seine Kritik an der Spielweise des scheinbar lustlosen Albert gipfelte einmal in der hoffnungslosen Bemerkung: „Wenn einer halt kein Gefühl hat, so kann ich ihm auch keines geben.“ Dieser Rüffel saß. Schon in der nächsten Übungsstunde spielte Albert das aufgegebene Stück von Mendelssohn-Bartholdy mit so viel Empfindung, dass ihm der Lehrer kräftig auf die Schulter klopfte – Zeichen aufrichtigen Lobes. Der Bann war gebrochen. Alberts Orgelspiel machte rasch Fortschritte, und schon bald (mit sechzehn Jahren) durfte Schweitzer den verehrten Lehrer im Gottesdienst an der Orgel vertreten und in Kirchenkonzerten die Orgelbegleitungübernehmen. – Als Eugen Münch im Jahre 1898 früh verstarb, widmete der damals 23-jährige Schweitzer seinem Orgellehrer eine kleine Gedenkschrift. Sie ist übrigens das erste Dokument aus Schweitzers Feder, das im Druck erschien.
Konfirmandenunterricht erhielt Albert beim alten Pfarrer Wennagel, den er sehr respektierte und bei dem er ein fleißiger
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