Albert Schweitzer
Schüler war. Verstanden fühlte er sich von dem alten Theologen jedoch nicht in allem, was wesentlich an seiner eigenen Verschlossenheit und Zurückhaltung lag. Albert wagte es nicht, sich mit Fragen, die ihm im Herzen brannten, dem Pfarrer gegenüber zu öffnen. Zugleich war er im Innersten stolz darauf, in einem für ihn ganz wesentlichen Punkt anders zu denken als der Konfirmandenlehrer: „Er wollte uns begreiflich machen, dass vor dem Glauben alles Nachdenken verstummen müsse. Ich aber war überzeugt, und ich bin es noch, dass die Wahrheit der Grundgedanken des Christentums sich gerade im Nachdenken zu bewähren habe. Das Denken, sagte ich mir, ist uns gegeben, dass wir darin alle, auch die erhabensten Gedanken der Religion begreifen. Diese Gewissheit erfüllte mich mit Freude.“ Auch in dieser Erfahrung aus der Konfirmandenzeit kündigt sich eine wichtige Grundhaltung Schweitzers an, die ihn sein Leben lang begleiten und tragen sollte. Denken und Glauben waren ihm keine Gegensätze, wie es das geläufige Wort nahelegt: „Wo das Denken aufhört, fängt der Glaube an.“ Nein, Denken und Glaube bedingen einander;der Glaube hat das Denken nicht zu fürchten, sondern bedarf seiner, um sich zu bewähren. Umgekehrt grenzt sich das Denken nicht vom Glauben ab, sondern führt, konsequent und elementar angewandt, zum Glauben. Gott hat uns die Kraft des Glaubens nicht gegeben, um das Denken auszuschalten, sondern er hat uns das Denken gegeben, um den Glauben zu bewahrheiten. So stehen Glaube und Denken nicht im Widerspruch gegeneinander, sondern in Ergänzung zueinander. Zu dieser elementaren Einsicht war schon der junge Albert Schweitzer gelangt, und von ihr ist sein ganzes theologisches und philosophisches Lebenswerk geleitet.
Pfarrer Wennagel führte mit jedem seiner Konfirmanden gegen Ende der Vorbereitungszeit ein Vier-Augen-Gespräch. Für Albert endete dieses vertraulich gemeinte Gespräch traurig. Er wurde „kühl entlassen“, weil es ihm in seiner Introvertiertheit nicht gelungen war, den Pfarrer in sein Herz blicken zu lassen. Dieser zog daraus den falschen Schluss und teilte das auch der Tante Sophie mit, Albert nehme als ein „Gleichgültiger“ an der „heiligen Stunde“ der Konfirmation teil. Hier hatte er die äußere Verschlossenheit des jungen Menschen gründlich missverstanden. In Wirklichkeit war Albert nämlich zutiefst ergriffen von dem „großen Erlebnis“, das die Konfirmation ihm bedeutete.
Entscheidend ist nun wieder, wie Schweitzer mit dieser frühen Seelenerfahrung anlässlich seiner Konfirmation umging, welche persönliche Konsequenz er aus diesemfür ihn so gravierenden Ereignis zog. Als Vikar zu St. Nicolai in Straßburg sollte er später selbst zehn Jahre lang Konfirmandenunterricht erteilen. „Wie oft habe ich da, wenn mir einer gleichgültig erschien, an den lieben Pfarrer Wennagel und an mich denken müssen und mir dann immer gesagt, dass in einem Kinderherzen viel mehr vorgeht, als es ahnen lässt!“ Diesen Respekt vor der Würde und dem Geheimnis des anderen, die Achtung vor dessen Seelenleben hat sich Schweitzer ein Leben lang bewahrt.
Zwischen seinem vierzehnten und sechzehnten Lebensjahr durchlebte Schweitzer eine typisch pubertäre Phase, in der er vor allem die Nerven seiner Mitmenschen auf eine harte Belastungsprobe stellte. „Ich wurde allen Menschen, besonders aber meinem Vater, durch einen Drang zum Diskutieren unausstehlich. Mit jedem Menschen, der mir in den Weg geriet, wollte ich über die Fragen, die gerade berührt wurden, eingehende und vernunftgemäße Überlegungen anstellen, um dabei die Irrtümer der Gewohnheitsmeinungen aufzudecken und das Richtige zur Geltung zu bringen. Die Freude an dem Suchen nach dem Wahren und Zweckmäßigen war wie ein Rausch über mich gekommen. Jedes Gespräch, an dem ich beteiligt war, sollte auf den Grund der Dinge gehen. So trat ich aus meiner bisherigen Verschlossenheit heraus und wurde der Störenfried jeglicher Unterhaltung, die nur Unterhaltung sein wollte. Wie viele Tischgesprächezu Mühlhausen und zu Günsbach habe ich in ein böses Fahrwasser gebracht! Die Tante schalt mich frech, weil ich mich mit den Erwachsenen auseinandersetzen wollte, als wären sie meine Altersgenossen. Gingen wir irgendwo auf Besuch, so musste ich meinem Vater versprechen, ihm den Tag ja nicht durch ‚dummes Benehmen bei Gesprächen‘ zu verderben.“
Allerdings hatte Schweitzer im Rückblick eine plausible Erklärung für dieses
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