Albert Schweitzer
„unausstehliche“ Verhalten. Die Überzeugung, dass nur durch vernunftgemäßes Denken und Sprechen der Fortschritt der Menschheit zu bewirken sei, nicht aber durch belangloses Meinen und Gedankenlosigkeit, hatte von ihm – freilich in unangenehmer Weise – Besitz ergriffen. In nüchterner Selbstanalyse konstatierte der Autobiograf, dass er eigentlich so unausstehlich geblieben sei wie in jener pubertären Gärungsphase. „Nur suche ich es, so gut ich kann, mit der im Umgang erforderlichen Gesittung zu vereinigen, um den Menschen nicht lästig zu fallen. Ich habe mich darunter gebeugt, an Gesprächen teilzunehmen, die nur Gespräche sind, und Gedankenlosigkeiten anzuhören, ohne mich dagegen aufzulehnen. Meine angeborene Verschlossenheit hat mitgeholfen, dass ich mir wieder dieses Verhalten des wohlerzogenen Menschen aneignete.“ Die Hitzköpfigkeit des ungehobelten Jugendlichen hatte er abgelegt; die Leidenschaftlichkeit für die Wahrheit ist ihm unter Achtung manierlicher Gepflogenheiten geblieben.
Gegen Ende seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen berichtet Schweitzer mit Wehmut, dass bis etwa zur Zeit seiner Konfirmation ein Schatten über seiner sonst so sonnigen Jugend lag. Im Elternhaus mit den fünf Kindern herrschten Geldsorgen, durch welche die Mutter zu äußerst sparsamer Haushaltsführung gezwungen war. Der Vater war durch diese Mangelzeit gesundheitlich ziemlich angeschlagen. Magenprobleme und schmerzhafter Gelenkrheumatismus plagten ihn.
Mit zunehmendem Alter wurde der Vater zur Freude der Familie gesundheitlich wieder rüstiger, was ihn schließlich befähigte, den Dienst an seiner Günsbacher Gemeinde fünfzig Jahre getreulich und mit Freude zu versehen. Die Erbschaft eines kleinen Vermögens enthob die Pfarrersfamilie zudem ihrer finanziellen Sorgen. Diese positive Entwicklung ermöglichte Schweitzer denn auch, über seine Jugend in dankbarem Rückblick zu resümieren:
„So lag in den letzten Jahren, in denen ich auf der Schule war, wieder voller Sonnenschein über meinem Vaterhaus. Wir waren alle gesund und lebten in schönster Eintracht miteinander. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern war ein ideales, dank dem großen Verständnis, das die Eltern uns in allen Dingen, selbst in unseren Torheiten, entgegenbrachten. Sie erzogen uns zur Freiheit. Niemals, seitdem ich das leidige Diskutieren aufgegeben hatte, war in unserem Hause etwas von der Spannung zwischen dem Vater und dem erwachsenenSohn, die das Glück so mancher Familie stört. Der Vater war mir der liebste Freund.“
Mancher Biograf hat Schweitzer unterstellt, er habe seine Kindheit und Jugend in seinen Aufzeichnungen von 1924 beschönigend verklärt, denn sicher sei nicht alles so problemlos, konfliktfrei und harmonisch verlaufen, wie es die Erinnerungen suggerieren sollen. Ich halte dem entgegen: Gewiss hat es in Schweitzers Familie auch Konflikte gegeben, und bestimmt kam es in der Geschwisterschar auch zu rivalisierenden Reibereien. Schweitzer hat sich aber in seinen Aufzeichnungen auf jene Ereignisse und Erlebnisse konzentriert, welche
ihn
geprägt haben, die
ihm
so wichtig geworden waren, dass er sich ihrer so genau zu erinnern vermochte. So ist das Fazit seiner Jugendzeit und ihrer Bedeutung für seinen weiteren Lebensweg glaubwürdig:
„Der Gedanke, dass ich eine so einzigartig glückliche Jugend erleben durfte, beschäftigte mich fort und fort. Er erdrückte mich geradezu. Immer deutlicher trat die Frage vor mich, ob ich dieses Glück als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe. So wurde die Frage nach dem Recht auf Glück das zweite große Erlebnis für mich. Als solches trat sie neben das andere, das mich schon von meiner Kindheit her begleitete, das Ergriffensein von dem Weh, das um uns herum in der Welt herrscht. Diese beiden Erlebnisse schoben sich langsam ineinander. Damit entschied sich meine Auffassung des Lebens und das Schicksal meines Lebens. Immer klarerwurde mir, dass ich nicht das innerliche Recht habe, meine glückliche Jugend, meine Gesundheit und meine Arbeitskraft als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Aus dem tiefsten Glücksgefühl erwuchs mir nach und nach das Verständnis für das Wort Jesu, dass wir unser Leben nicht für uns behalten dürfen. Wer viel Schönes im Leben erhalten hat, muss entsprechend viel dafür hingeben. Wer von eigenem Leid verschont ist, hat sich berufen zu fühlen, zu helfen, das Leid der anderen zu lindern. Alle müssen wir an der Last von Weh, die auf
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