Albert Schweitzer
der Welt liegt, mittragen.“
Eine humoristische Begebenheit mit beinahe tragischem Ausgang steht am Ende der Schweitzerschen Erlebnis-Chronik. Es geht um die Abiturprüfung. Da Schweitzer selbst keine für diesen feierlichen und würdevollen Anlass angemessene schwarze Hose besaß, sich auch aus Sparsamkeitsgründen keine anfertigen lassen wollte, behalf er sich mit der Hose des Onkels Louis. Nicht zu übersehende Unterschiede im Körperbau von Onkel Louis und Albert beschworen nun kleidungstechnisch gewisse Schwierigkeiten herauf. Der Onkel war klein und wohl beleibt, Albert hingegen hoch aufgeschossen und schlaksig. Diese körperlichen Differenzen nötigten im Hinblick auf die Beinkleider zu einer fantasie- und wirkungsvollen Behelfsmaßnahme. Die Hosenträger wurden mit Schnüren künstlich verlängert; dennoch reichte die Hose kaum bis zu den Schuhen hinab. Über dem Hosenbund gähnte ein weißer Raum; dieRückansicht wollte Schweitzer aus Gründen der Pietät gar nicht erst beschreiben. In dieser eher karnevalistisch anmutenden Montur trat nun Albert zusammen mit seinen Examensgenossen – die sich aus verständlichen Gründen das Lachen nicht verkneifen konnten – vor die gestrenge Prüfungskommission. Auch von den würdigen Herren war er bald als Urheber dieser unwürdigen Heiterkeit ausgemacht. Entsprechend streng wurde er geprüft. Dass er schließlich dennoch ein akzeptables Reifezeugnis erlangte, verdankte er letztendlich seinem überdurchschnittlichen Abschneiden im Fach Geschichte.
Am Ende seiner Rückschau auf die eigene Kindheit und Jugend kommt der Moralist Albert Schweitzer zu Wort. Mit Dankbarkeit gedachte er der Menschen, die ihm – wissend oder unwissend – für das eigene Leben bedeutungsvoll geworden waren. Dies – so Schweitzer – dürfen wir nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen, sondern sollen es dankbar als ein großes Geschenk würdigen. In echter sokratischer Manier zeigte sich Schweitzer davon überzeugt, dass alle guten Gedanken schon in einem Menschen schlummern, darauf wartend, dass sie durch irgendwelche biografischen Auslöser, irgendwelche einschneidenden Ereignisse geweckt werden. So wie der große antike Philosoph Sokrates (469–399 v. Chr.) die Kunst des guten Lehrers mit der Tätigkeit einer Hebamme verglich, die ja selbst kein Leben erschafft, sondern ihm zum Eintritt ins Dasein verhilft, so sah auchSchweitzer, dass das Gute schon in uns Menschen angelegt ist und darauf wartet, ins Dasein, in unser Bewusstsein gebracht zu werden: „Ich glaube nicht, dass man in einen Menschen Gedanken hineinbringen kann, die nicht in ihm sind. Gewöhnlich sind in den Menschen alle guten Gedanken als Brennstoffe vorhanden. Aber vieles von diesem Brennstoff entzündet sich erst oder erst recht, wenn eine Flamme oder ein Flämmchen von draußen, von einem andern Menschen her, in ihn hineinschlägt. Manchmal auch will unser Licht erlöschen und wird durch ein Erlebnis an einem Menschen wieder neu angefacht. So hat jeder von uns in tiefem Danke derer zu gedenken, die Flammen in ihm entzündet haben. Hätten wir sie vor uns, die uns zum Segen geworden sind, und könnten es ihnen erzählen, wodurch sie es geworden sind, sie würden staunen über das, was aus ihrem Leben in unseres übergriff. So weiß auch keiner von uns, was er wirkt und was er Menschen gibt. Es ist für uns verborgen und soll es bleiben. Manchmal dürfen wir ein klein wenig davon sehen, um nicht mutlos zu werden. Das Wirken der Kraft ist geheimnisvoll.“
Überhaupt bleiben wir Menschen uns gegenseitig immer geheimnisvoll, denn kein Mensch vermag einen anderen bis in die tiefsten Winkel seiner Seele wirklich zu erkennen. Dies gilt es, so Schweitzer, gegenseitig zu respektieren, und für einen selbst heißt es, jene intime Sphäre des inneren Lebens zu wahren: „Darum meine ich, dass sich auch keiner zwingen soll, mehr von seineminneren Leben preiszugeben, als ihm natürlich ist. Wir können nicht mehr, als die andern unser geistiges Wesen ahnen lassen und das ihrige ahnen. Das Einzige, worauf es ankommt, ist, dass wir darum ringen, dass Licht in uns sei. Das Ringen fühlt einer dem andern an, und wo Licht im Menschen ist, scheint es aus ihnen heraus. Dann kennen wir uns, im Dunkel nebeneinander hergehend, ohne dass einer das Gesicht des andern abzutasten und in sein Herz hineinzulangen braucht.“
Die Arbeit an der Entwicklung des Selbst, an der eigenen Friedfertigkeit und Liebesfähigkeit ist eine lebenslange
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