Albertas Schatten
glauben, daß ›Erfolg haben‹ alles auf der Welt ist. Vielleicht weil die Zweifel, hätten sie welche, zu schwer zu ertragen wären. Ich vermute, daß dies der Grund ist, was meinst du?«
»Wahrscheinlich. Aber sie ertragen meinen Bruder, weil es sich für sie lohnt. Du findest dich mit ihm ab aus Loyalität und Nächsten-liebe; ich glaube, da liegt ein Unterschied. Wie hältst du es mit ihm aus, wenn diese Frage nicht allzu taktlos ist?«
Aber Toby sollte die Frage nicht beantworten, nicht an diesem Abend. Die Dame an seiner anderen Seite forderte seine Aufmerksamkeit, und Kate wurde, wie auf ein für sie unhörbares Zeichen, gleichzeitig von ihrem linken Tischnachbarn angesprochen. Bevor sie und Toby sich jedoch am Ende des Dinners verabschiedeten, vereinbarten sie demnächst einen gemeinsamen Lunch. Abgesehen von Lillians Sorgen freute sich Kate auf ein Gespräch mit Toby. Es interessierte sie, was ihn beschäftigte – neben dem Verschwinden von Charlotte Lucas und einer namenlosen englischen Schriftstellerin.
2
K ate war erstaunt, am Anfang der nächsten Woche nach ihrer Sprechstunde Lillian vorzufinden, die auf sie wartete. »Ein interessantes Völkchen«, sagte Lillian, als Kate sie ins Büro bat und die Tür hinter ihr schloß. »Ich habe mich als Studentin ausgegeben und sie gefragt, was sie von dir halten. Die Meinungen waren unterschiedlich.«
»Findest du nicht, daß das unaufrichtig war?«
»Wahrscheinlich schon. Ich bin unmoralisch und unheilbar neugierig. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Ich weiß, daß du eine besondere Vorliebe für extravagante Aktionen hast, was, wie ich annehme, von einer gewissen beruflichen Unzufriedenheit herrührt.«
»Woher weißt du, daß es sich nicht um eine private Unzufriedenheit handelt?«
»Höchst einfach (= lit. Zitat), mein lieber Watson. Es ist unwahrscheinlich, daß du mich in einer persönlichen Angelegenheit um Rat fragst: In solchen Fällen sind normalerweise Gleichaltrige die Ratgeber, nicht Tanten. Zweitens bezweifle ich sehr, daß du Probleme mit deinem Privatleben hast. Vielleicht hättest du welche gehabt, wenn du zu meiner Zeit jung gewesen wärest. Heute, würde ich sagen, gehörst du zu den glücklichen Menschen, die für die Zeit und den Ort geschaffen sind, in denen sie leben.«
»Wunderbar. Übrigens habe ich Holmes’ Schlußfolgerungen immer für überbewertet gehalten. Die Leute, mit denen er zu tun bekommt, haben immer etwas Besonderes an sich: vom Kratzer auf der Uhr über eine schlechte Gesundheit bis zum Verfolgungswahn.
Mit mir hätte er nichts anfangen können. Aber ich bin froh, daß du Watson erwähnt hast, weil ich deswegen hier bin.«
»Das ist aber eine tolle Neuigkeit, Lillian. Gibt es ein neues Stück über Holmes, bei dem Watson eine Frau ist, und du sollst diese Rolle spielen? Oder ist es eine Hosenrolle?«
»Du bist komisch, Kate. Es ist kein Theaterstück; davon hätte ich schon längst etwas erzählt. Nein, ich bin dabei, Watson zu spielen, zumindest hoffe ich das. Mit dir als Holmes.«
Kate starrte ihre Nichte an. »Meine Liebe«, sagte sie, als sie schließlich ihre Stimme wiedergefunden hatte, »ich weiß, die Zeit ab Mitte zwanzig ist eine schwierige Phase im Leben. Aber es hat sich gezeigt, daß viele Leute, die heute sehr erfolgreich sind, in ihrer Jugend lange Perioden großer Unentschlossenheit durchgemacht haben. Hast du Erikson gelesen? Denk an Luther, William James, Shaw, Yeats. Auf keinen Fall kannst du mich in die Rolle von Holmes drängen. Außer der Körpergröße und der Magerkeit haben wir nichts gemeinsam. Ich habe keine Adlernase, spiele nicht Geige, habe nie Kokain probiert oder irgendein anderes Rauschgift –
Rauschgift ist übrigens die einzige der revolutionierenden Neuerun-gen modernen Lebens, die ich ganz entschieden ablehne –, bin kein Engländer und kann nicht die eine Zigarettenasche von der anderen unterscheiden, um nur einiges zu nennen.«
»Du scheinst eine Menge über ihn zu wissen.«
»Im Gegenteil, jeder Sherlockianer würde dir sagen, daß ich überhaupt nichts von ihm weiß, außer dem, was man als Kind beim Lesen so aufschnappt. Warum, um alles in der Welt, diskutieren wir über Sherlock Holmes?«
»Du bist eine Frau, und du bist Detektivin, zumindest von Zeit zu Zeit. Zwischen deinen Fällen hältst du Vorlesungen – alles was Holmes gemacht hat, ist Geige spielen und herumschnüffeln. Da ist kein großer Unterschied.
Was dir fehlt, abgesehen von Nebel,
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