Regency Reality-Show
Prolog
„Keller, schenken Sie uns ein Glas Bourbon ein. Für heute haben wir genug geschuftet.“
Seit über vierzig Jahren war Herbert Keller der persönliche Assistent und Sekretär vom milliardenschweren Konzerninhaber Ferdinand Tobler.
„Aber Herr Tobler, der Doktor hat Ihnen bloss ein Glas Rotwein pro Tag gestattet – keine anderen alkoholischen Getränke.“
„Sind Sie mein Arzt?“
„Nein, aber einen Herzinfarkt darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.“
„Wenn Sie mir den Bourbon nicht sofort bringen, werde ich Fritsche damit beauftragen und Sie können Ihre Sachen packen.“
„Lauter leere Versprechungen. Sie drohen mir schon seit vierzig Jahren mit der Kündigung und können sich ja doch nicht von mir trennen.“
„Klar kann ich. Wie oft habe ich Sie schon entlassen? Und dann tauchen Sie Tags darauf einfach wieder auf und –„
„Ja, ja. Schon gut. Sie kriegen Ihren Bourbon. Aber auf Ihre eigene Verantwortung. Im Moment ist ja noch nicht mal Ihre Nachfolge geregelt.“
„Ach ja, wie läuft die Suche nach meinem entfernten Cousin? Ist er aufgetaucht?“
„Da haben wir leider zwischenzeitlich einen Rückschlag einstecken müssen. Er ist vor vier Jahren bei einem Autounfall gestorben. Seine Frau war ebenfalls auf der Stelle tot. Offensichtlich hatten die beiden jedoch eine Tochter. Die sucht der Privatdetektiv im Moment.“
„Meine einzige und letzte lebende Verwandte ist ein kleines Mädchen?“
„Nach den Angaben vom Privatdetektiv dürfte sie etwas älter sein. Eine junge Frau, würde ich sagen.“
„Na ja, mal sehen. Sorgen Sie dafür, dass sie bald aufgetrieben wird. Ich hatte immer vor, eine eigene Familie zu gründen. Aber stets hatte die Firma Vorrang und nun bin ich plötzlich siebzig und stehe alleine da – wofür habe ich mich eigentlich so abgeschuftet?“ Sein Temperament ging wieder einmal mit ihm durch, und er war bei der Diskussion immer lauter geworden. So erstaunte es Keller, als Tobler leise hinzufügte: „Finden Sie sie – ich brauche sie – sie ist meine Zukunft.“
Die Diskussion der beiden Herren war durch die offene Bürotüre gut zu hören. Und eine Person lauschte besonders angestrengt.
***
Abgebrannt? Das durfte einfach nicht sein. Mein Theaterengagement war gerade erst angelaufen und dank dieser Hauptrolle hatte ich mit der Schauspielerei erstmals genug für meinen Lebensunterhalt verdient. Und nun war das Theater nur noch Asche und mein Vertrag per sofort aufgelöst. Wenn ich nicht sofort einen neuen Job fand, konnte ich Ende Monat weder die Miete noch die Kosten für Flora, meine Araberstute aufbringen. Das war es dann also mit der Schauspielerei – vier Jahre harte Ausbildung und schliesslich musste ich froh sein, wenn ich in einem Supermarkt Waren auffüllen oder in einem Take-Away Kaffee ausschenken durfte. Mit hängenden Schultern schlurfte ich in den Pferdestall.
„Ach Flora, Du bist das Einzige, was ich von meinen Eltern noch habe. Ich will Dich einfach nicht weggeben müssen.“
Schniefend umarmte ich mein geliebtes Pferd und vergrub das Gesicht in ihrem Nacken. Sie konnte mich bestimmt verstehen und versetzte mir einen leichten Schups mit der Nasenspitze.
„Ich verspreche Dir, ich werde Tag und Nacht arbeiten, bevor ich Dich Fremden überlasse. Nach unserem Ausritt werde ich mich gleich in die Jobsuche stürzen. Bestimmt wartet die Welt nur gerade auf mich – jung, talentiert, sportlich –„
Mit einem weiteren Stupser beendete Flora die aufmunternde Rede.
***
Buch I
***
Kapitel 1
Ich konnte mein Glück immer noch nicht fassen. Flora und ich hatten ein gemeinsames Engagement! Wir würden weltweit im englischsprachigen Raum im Fernsehen zu sehen sein. Bei einem solchen Angebot hätte ich auch ohne Gage zugesagt. Während zwei Monaten musste ich rund um die Uhr als Adlige Anfang des 19. Jahrhunderts leben. Ich durfte niemals aus der Rolle fallen – sonst flöge ich sofort raus und würde mit einer saftigen Busse bestraft. Sollte ich die zwei Monate jedoch souverän durchstehen, stünde mir am Ende eine Gage von hunderttausend Pfund zu. Diese würde zusätzlich aufgerundet für jede gesendete Minute, in der eine Szene von mir ausgestrahlt würde. Ich war also angehalten, die Realityshow der Regency-Periode aktiv mitzugestalten.
Drei Tage hatten die Profi- und Laienschauspieler Zeit, sich den eigenen Lebenslauf einzuprägen, die gesamte Garderobe anzupassen und sich
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