Aldebaran
Liegeplatz 111 festzumachen, am Ende des Quai Wilson, am Digue du Large. Der Hafen wimmelte von solchen Geschichten. Die Partner hing in Rouen schon seit drei Jahren fest. Niemand wusste mehr, wem das Schiff gehörte; es wurde verkauft, wieder verkauft, weiterverkauft, ohne jemals seinen Platz zu verlassen. Mehr in ihrer Nähe, in Port-de-Bouc, lag die Africa, ein Massengutfrachter, seit achtzehn Monaten am Kai. Die Alcyon, ein Roll-on-Roll-off-Frachter, und die Fort-Desaix, ein Trampschiff, in Sète. Das hatte man Diamantis erzählt. Und Abdul Aziz natürlich auch.
All dies war den beiden Männern nicht unbekannt, als sie auf der Aldebaran anheuerten. Immer mehr Frachter ereilte in den Häfen dieses Schicksal, wenn sie irgendwelchen Reedern gehörten, die mit der Fracht Roulette spielten. Nur Containerschiffe und Öltanker von internationalen Flotten blieben verschont. Aber darüber sprachen Abdul Aziz und Diamantis nie. Aus Aberglauben. Die Aldebaran würde wieder auslaufen. Unter dem Kommando von Aziz. Da gab es keinen Zweifel. Mit fünfundfünfzig kam es für ihn nicht in Betracht, sein Schiff zu verlassen. Er hatte das Kommando auf der Aldebaran in La Spezia übernommen, und er würde sie ihrem Eigentümer zurückbringen. Ganz gleich, wer das war. Und egal, wohin. Das hatte er vorgestern Abend vor versammelter Mannschaft noch einmal bekräftigt.
In der Messe hatte er mit betont emotionsloser Stimme das Gerichtsurteil verlesen, das ihm am Nachmittag zugestellt worden war.
»Die Aldebaran wird beschlagnahmt als Sicherheit für die Schulden einer Gesellschaft, die sich nach Aussagen der Gläubiger im Besitz des Reeders befindet. Obgleich die Gesellschaft, zu der die Aldebaran gehört, rechtlich keine Verbindung zur verschuldeten Gesellschaft aufweist …«
Die Mannschaft hörte schweigend zu, ohne ein Wort von diesem juristischen Kauderwelsch zu verstehen. Der Rechtsanwalt, der ihnen von Amts wegen zugeteilt worden war, erklärte es ihnen Wort für Wort. Aber das war überflüssig. Jeder hatte das Wesentliche begriffen. Selbst die beiden Birmanen in der Besatzung. Es wird noch ein gutes Weilchen dauern, bis das Schiff wieder ausläuft.
»Nur wenn der Frachter verkauft wird, und obendrein zu besten Konditionen, könnt ihr ausbezahlt werden«, fiel Abdul dem Anwalt ins Wort, der gerade zu einem kunstvollen juristischen Höhenflug ansetzte. »Das heißt es. Und das kann morgen oder in sechs Monaten sein. Oder vielleicht in einem Jahr. Ich will nicht, dass ihr euch Illusionen macht. In Sète«, führte er aus, »sollte die Fort-Desaix, ein Frachter wie unserer, letzte Woche versteigert werden. Nicht ein Käufer hat sich sehen lassen … Das ist es, was ihr wissen müsst. Ich kenne eure familiären Probleme. Ich habe die gleichen. Also, ich halte niemanden zurück. Ich habe mich erkundigt. Für diejenigen, die gehen möchten, sind Abfindungen – wenn auch niedrige – möglich. Denkt darüber nach, und gebt mir morgen früh Bescheid. Ich bleibe. Mein Platz ist hier. Aber das wisst ihr ja alle.«
Er schaute jedem Einzelnen in die Augen, nur den Rechtsanwalt ließ er außen vor. Dann fügte er hinzu: »Es tut mir schrecklich Leid … das Ganze. Ich hätte euch keine Hoffnung machen dürfen. Ich habe fest daran geglaubt, dass wir wieder auslaufen würden. Ich glaube immer noch daran, aber …« Er stand auf. Er wirkte erschöpft.
»Guten Abend, Freunde.«
Er verließ den Raum, den Blick in der Ferne verloren, mit zusammengepressten Lippen. Steif. Mit dem Stolz eines Verzweifelten.
Diamantis sah ihm nach. Er wusste, dass Abdul Aziz sich in seine Kabine zurückziehen wollte. Mit geschlossenen Augen in seiner Koje ausgestreckt würde er sich mit der Musik von Duke Ellington trösten. Er hatte sämtliche Stücke von ihm auf Kassetten, die er über einen Walkman hörte. Ein Geburtstagsgeschenk seiner Frau Céphée. Er war nicht wieder rausgekommen, nicht mal zum Essen. Die Geschichte machte ihn fertig. Abdul Aziz mochte keine Niederlagen.
Diamantis warf seine Kippe ins Wasser. Das offene Meer fehlte ihm. Das Landleben hatte ihn nie gereizt, nicht einmal in einem Hafen. Nach fast zwanzig Jahren Seefahrt war das Meer zu seiner zweiten Haut geworden. Dort, und nur dort, fühlte er sich frei. Da fühlte er sich weder tot noch lebendig, nur anderswo. Ein Anderswo, in dem er ein paar Gründe fand, er selbst zu sein. Das genügte ihm.
Er hatte sich nichts aufgebaut und hatte keine Familie mehr, keine Frau, die auf ihn
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