Die Familie Willy Brandt (German Edition)
An Gräbern stehen
Im Sommer 1980 trat Willy Brandt das erste Mal öffentlich vor die Bürger Unkels. Er wirkte entspannt, das sonst oft melancholisch verquollene Gesicht war gestrafft. Die Schwermut auf Diät gesetzt, ein heiteres Lächeln glättete die Züge. Die kleine Rotweinstadt am Rhein in der Nähe von Bonn feierte den einhundertsiebzigsten Geburtstag des Freiheitsdichters Hermann Ferdinand Freiligrath, der von 1838 bis 1840 in Unkel gelebt hatte. Hier am Rhein hatte sich Brandt 1979 nach der Trennung von seiner zweiten Ehefrau Rut niedergelassen. Ein neues Kapitel seines Lebens sollte hier aufgeschlagen werden. Hier würde er noch einmal lieben, noch einmal heiraten, hier würde er das erste Mal überhaupt ein Haus bauen, in dem er 1992 schließlich sterben sollte.
Die Menschen standen dicht an dicht auf dem schmalen Marktplatz, der von geduckten Fachwerkhäusern eingezwängt war. Den populären Politiker wollten sie sehen, ihm galt ihre Neugier. An diesem Tag, dem 17. Juni 1980, war Willy Brandt 66 Jahre alt und glücklich, am Leben zu sein. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit drängte gerade an diesem Festtag scharf und schneidend heran. Brandts Leibwächter indes merkten davon nichts, Gefühle fielen nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Der Unkeler Schriftsteller Leonhard Reinirkens hatte unmittelbar vor dem prominenten Mitbürger gesprochen und sich deshalb redlich bemüht, Freiligrath als politischen und revolutionär gestimmten Dichter herauszuarbeiten. Doch dann trat Brandt ans Rednerpult, dankte seinem Vorredner kurz und bemerkte lächelnd, man möge doch bitte nicht vergessen, dass Freiligrath auch sehr schöne Liebesgedichte geschrieben habe. Dann nahm er sich zur Verblüffung des Publikums, das eher Wahlkampftöne erwartet hatte, die Freiheit, eine Freiligrath-Strophe zu rezitieren: »O lieb’, so lang du lieben kannst! O lieb, so lang du lieben magst! Die Stunde kommt, die Stunde kommt, wo du an Gräbern stehst und klagst.«
Ein kurzer still-beklommener Moment, vorbei.
Fünf Monate später nahm Brandt auch formell Abschied von seinem alten Leben, jetzt wurde auf Papier bekundet, was im Leben längst besiegelt war. Am 16. Dezember 1980 wurden Rut und Willy Brandt nach 32 Jahren Ehe geschieden. Es waren die wichtigsten Jahre in ihrem Leben. Sie waren miteinander jung gewesen, sie hatten einander genügt, wie man sich nur im Gefühl der sicheren Liebe genügen kann, sie hatten ihre drei Kinder aufwachsen sehen und waren ein glanzvolles, ein sich bestärkendes und miteinander wachsendes Paar gewesen. Sie war die Frau an der Seite des Mannes, der aus dem Exil heimgekehrt war, sie war die Frau des Regierenden Bürgermeisters, sie war die Frau des SPD-Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten, sie war die Frau des Außenministers, schließlich die des Bundeskanzlers und auch die Frau des Friedensnobelpreisträgers. Sie liebte, sie war loyal, eine Ja-Sagerin war sie nicht, keine Erfüllungsgehilfin, keine, die nur abnickte, was er sagte und tat. Sie hatte ihren eigenen Kopf, auch dafür hatte er sie einst mehr als geschätzt. Doch zuletzt teilten sie nur noch das Gefühl, den anderen nicht mehr zu erreichen, nicht mehr zu verstehen.
Am Tag ihrer Scheidung in Bonn lachten sie ein letztes Mal miteinander, tranken in der Wohnung ihres Sohnes Lars ein Glas Wein, dann gingen sie auseinander. Doch dieser Tag war nicht, wie es Rut Brandt erhofft hatte, der Tag, an dem ihre Freundschaft begann, sondern nur ein schwer lastendes, unversöhnliches, nachtragendes, verletzendes Schweigen. Rut und Willy Brandt sprachen nie wieder miteinander und sahen einander nur noch im Fernsehen.
Willy Brandt starb zwölf Jahre später am 8. Oktober 1992. Rut Brandt war weder zum klirrend-kühlen Staatsakt im Reichstag noch zur anschließenden Beerdigung auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof eingeladen worden. Die Söhne Peter, Lars, Matthias und Brandts Tochter Ninja aus erster Ehe folgten dem Sarg, vor ihnen Brigitte Seebacher-Brandt, Willy Brandts dritte Gattin, und Helmut Kohl. Der Staat und seine Repräsentanten, die Partei und ihre Genossen hatten den Toten ganz zu ihrem Toten gemacht. Familie als Randnotiz. Wolf-Rüdiger Knoche, ein Jugendfreund von Peter Brandt, beobachtete: »Bei der Beerdigung ist mir aufgefallen, aufgegangen, dass die Partei Brandts Familie war. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Mann so weinen sehen wie Holger Börner.«
Rut Brandt starb am 28. Juli 2006 in Berlin. Sie war schon
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