Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
über das Feld, und er sah die frisch aufgeschüttete Erde. Plötzlich wußte er, was er zu tun hatte.
Abrupt hielt er das Pferd an und sprang von dem verwirrten Tier. Kate rief: »Beeilt Euch! Sie kommen immer näher!«
Er hörte Hundegebell, Hörnerklang und das Klirren von Rüstungen, dann die hastigen Rufe von Männern, die entschlossen eine Beute verfolgten. Er wußte, Kate und er waren das Ziel ihrer grausamen Jagd. Er grub die Hände in die lockere Erde, schaufelte sie mit mehr Kraft und Energie zur Seite, als er eigentlich hatte ... Ach, dachte er flüchtig, während er hektisch grub, jetzt wäre Carlos Alde- rons Schaufel nützlich! Als das kleine Loch endlich tief genug war, legte er die Kleider hinein und bedeckte sie rasch mit der losen Erde. Dann trat er die Erde fest, klopfte sich die Hände ab und stieg wieder auf sein Pferd.
Kate kreischte auf und zeigte in die Richtung, in die sie ritten. Alejandro sah Soldaten aus dem Wald auf die Lichtung treten, also wendete er sein Pferd, und sie rasten zurück zu den Eichen. Als sie zwischen den Bäumen hindurchritten, erhob sich kein Wind, um sie abzuwehren, doch als er sich umdrehte, sah er, wie sich Zweige und Stöcke zu einem wirbelnden Mahlstrom in die Luft erhoben; er hielt das Pferd einen Augenblick an und beobachtete, wie der Wind zum tobenden Sturm anwuchs. Als die Hunde sich den Eichen näherten, verlangsamten sie ihren Lauf und umkreisten sie jaulend. Auch die Soldaten hielten inne, und ihre Pferde bäumten sich auf, erschrocken über den plötzlichen Sturm.
Lautlos segnete Alejandro den Wind und lenkte sein Pferd wieder auf den Weg. Diesmal hielten sie nicht inne, sondern ritten geradewegs durch die Lichtung und in den Wald auf der anderen Seite. Sie setzten ihren Weg fort, bis sie sicher waren, daß sie ihre Verfolger endgültig abgeschüttelt hatten.
In dieser Nacht schliefen sie unter den Sternen auf einem Grasfleck auf einem hohen Abhang an der Küste Englands. Jenseits des Kanals lag Frankreich. Als sie am Morgen über das Wasser schauten, konnten sie es kaum erkennen, doch Alejandro spürte, daß es ihm zuwinkte wie eine Heimat, sicher und freundlich.
Der Schlaf hatte ihm neue Kraft gegeben, und so packte Alejandro ihre wenigen Habseligkeiten. Als er die Satteltasche schloß, kam sie ihm leerer vor, als sie sein sollte. Er musterte noch einmal ihren Inhalt und erkannte bestürzt, daß tatsächlich etwas fehlte.
Er hatte sein Weisheitsbuch in der steinernen Hütte zurückgelassen. Er konnte nicht umkehren, um es zu holen.
Der Gedanke, daß er diesen Teil seines Lebens verloren hatte, machte ihn traurig. Während er sein Pferd bestieg und Kate vor sich in den Sattel hob, hoffte er, wer immer es fände, möge den bestmöglichen Gebrauch davon machen. Er lenkte das Pferd nach Dover, wo sie das Wasser überqueren würden.
Und dort, endlich, würde ihr neues Leben beginnen.
Epilog
Caroline saß auf einer Holzschaukel auf der vorderen Veranda ihres Hauses im Westen Massachusetts’ und sah zu, wie ihre dreijährige Tochter in einem Berg aus goldenen und gelben Blättern spielte. Auf ihrem Schoß lag ein altes Buch, ein Geschenk von Janie nach ihrer Rückkehr aus England vor vier Jahren. Der Ledereinband war rissig und trocken, und sie dachte zerknirscht, daß sie es eigentlich nicht anfassen sollte. Es gehört in ein Museum , dachte sie jedesmal, wenn sie es zur Hand nahm.
Aber ich kann es einfach nicht hergeben, dachte sie dann immer. Auch nach vier Jahren ist es noch zu frisch .
Wieder blätterte sie die Seiten um und begann ganz am Anfang. Sechshundert Jahre, dachte sie; unglaublich, daß es zu seiner Vollendung so lange brauchte . Sie bewunderte die feine europäische Handschrift des ersten Schreibers, jetzt auf der vergilbten Seite kaum noch sichtbar. Es gab eine Zeit, dachte sie, als wir noch nicht einfach in einen Computer sprachen und dann darauf warteten, daß die gedruckte Seite erschien, makellos in Grammatik und Orthographie. Früher einmal schrieben die Leute auf Seiten aus Papier mit Federn, die in eine Lösung aus Kohle und verdünntem Pech getaucht wurden, und ihre Finger wurden schwarz davon, ihre Handgelenke schmerzten vom Bilden der Buchstaben. Dieser Mann schrieb, als wüßte er, daß er eines Tages nach seinem Werk beurteilt werden würde.
Sie blätterte durch die gesammelte Weisheit von sechshundert Jahren. Die Gesichter und Worte hatten sich ihr nach zahllosen Wiederholungen unauslöschlich eingeprägt. Auf der
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