Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Jörgensen gelöst«, sagte ich, vor Aufregung ein klein wenig heiser.
29
Muriel Jörgensen war immer noch erschreckend blass. Es war später Nachmittag, als ich sie besuchte, an einem Montag. Erst vor wenigen Stunden hatte sie auf eigenen Wunsch und gegen den nachdrücklichen Rat der Ärzte die Klinik verlassen. Ich selbst hatte eher zufällig davon erfahren, als ich wieder einmal dort anrief, um endlich die Erlaubnis für ein weiteres Gespräch zu erbetteln. Über eine Woche hatte ich ungeduldig auf die Gelegenheit gewartet, mir endlich bestätigen zu lassen, was ich bis dahin nur vermuten konnte.
Die Premiere meiner Töchter war ein kleiner Erfolg gewesen. Sogar eine zweizeilige Erwähnung in der Zeitung hatte es gegeben, die mittlerweile sorgfältig gerahmt in ihrem Zimmer hing. Inzwischen hatten sie sich von den Aufregungen wieder halbwegs erholt. Wie es nun weitergehen würde, war im Moment nicht klar. Sam hatte sich dazu noch nicht geäußert. Möglicherweise sollte es in der Weihnachtszeit noch weitere Auftritte geben, vielleicht aber auch nicht.
»Sie kommen heute allein?«, fragte Tims Mutter mit ausdrucksloser Miene, als sie mir nach hartnäckigem Klingeln endlich die Tür öffnete. Sie wirkte, als wäre sie betrunken, und schien sich kaum auf den Beinen halten zu können.
Man soll von geretteten Selbstmördern keine Wiedersehensfreude erwarten.
»Darf ich hereinkommen?«
Wortlos wandte sie sich um und ließ die Tür offen stehen. Noch immer regnete es. Die ganze letzte Woche hatte es geregnet. Mit dicken Schneeflocken durchmischt, fielen die Tropfen schwer und senkrecht und unentwegt zur Erde.
Ich stellte meinen durchnässten Schirm offen auf den gefliesten Boden des Flurs, hängte den feuchten Mantel an die Garderobe und folgte ihr ins Wohnzimmer, in dem es auch heute nicht wirklich hell war.
»Haben Sie nicht geheizt?« Ich rieb meine kalten Hände.
Sie stand am Fenster, sah hinaus und wandte mir den Rücken zu. »Für wen?«, fragte sie zurück.
»Für sich selbst vielleicht?«
Sie zuckte nur die schmalen Schultern, über die sie eine grob gestrickte, tannengrüne Jacke geworfen hatte. Sie musste entsetzlich frieren. Durch Dunst und Schneeregen waren die beiden Rosenbüsche am hinteren Ende des Gartens nur schemenhaft zu erkennen.
»Ich wusste nicht, dass es Rosen gibt, die im November noch blühen.«
»Für Kinder, die zu früh zur Welt kommen, gibt es keine Gräber«, sagte sie anstelle einer Antwort.
Früher als gedacht waren wir beim Thema. Muriel Jörgensen hatte zwei Fehlgeburten erlitten, hatte ich inzwischen in Erfahrung gebracht, und die Rosenstöcke ersetzten ihr die nicht vorhandenen Gräber. Totgeburten, die weniger als fünfhundert Gramm wiegen, wurden in Deutschland bis vor kurzem nicht bestattet, sondern entsorgt.
»Soll ich uns einen Tee kochen?«, schlug ich nicht ganz uneigennützig vor. »Und haben Sie schon etwas gegessen?«
Da sie nicht reagierte, ging ich schließlich in die Küche, fand, was ich brauchte, und setzte Wasser auf. Es gab eine große gläserne Kanne, Teebeutel, Zucker, altmodische, chinesisch bemalte Tassen. Sogar ein Stövchen und eine noch ungeöffnete Dose englischer Butter-Cookies waren vorhanden. Minuten später betrat ich mit einem Tablett in den Händen wieder das Wohnzimmer.
Muriel Jörgensen schien sich um keinen Millimeter bewegt zu haben.
»Es ist angerichtet«, versuchte ich zu scherzen. »Ein heißer Tee wird Ihnen guttun.«
Wieder erhielt ich keine Antwort. So schenkte ich eine Tasse voll und brachte sie ihr. Sie gönnte mir keinen Blick, als sie sie entgegennahm. Ich setzte mich an den Couchtisch, füllte die zweite Tasse und nahm zwei, drei winzige Schlucke, die nicht wärmten. Allein vom Anblick des schmalen, geraden Rückens am Fenster wurde mir sofort wieder kalt.
»Stellen Sie Ihre Fragen, und dann gehen Sie bitte«, sagte sie unvermittelt.
»Heute habe ich keine Fragen. Ich möchte mit Ihnen über Tim sprechen. Und über Sie. Und über Iva.«
»Sie wissen also schon alles.«
»Das glaube ich nicht.« Langsam, sehr langsam wurde mir wärmer im Magen. Meine Finger blieben jedoch kalt und steif.
Der Regen schien noch stärker geworden zu sein, die Dunkelheit weiter zugenommen zu haben. Ein Wetter, um sich das Leben zu nehmen. Ich suchte den Schalter der Tiffanylampe auf dem Ecktisch und knipste sie an. Sie verbreitete warmes Licht, und nun konnte ich plötzlich Muriel Jörgensens Spiegelbild im Fensterglas sehen. Dieser
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