Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
etwas, das Sie wissen sollten.«
Ich fasste in wenigen Sätzen zusammen, was in den letzten drei Monaten mit dem Kind geschehen war, das er nie als seinen Sohn akzeptiert hatte.
»Das ist ja ein Ding«, sagte er nur. »Und jetzt leben sie also auf dem Balkan? Wie hält Muriel das aus? Sie ist doch sonst so pingelig in allem. Allein der Anblick von Schmutz löst bei ihr einen allergischen Schock aus.«
»Es geht ihr ganz gut, soweit ich weiß.«
»Sie haben mit ihr telefoniert?«
»Und mit Iva. Ich soll Sie grüßen.«
»Danke.«
»Es ist ein bisschen eng, aber das wird sich bald ändern. Erst wollten sie ein Haus bauen. Jetzt wollen sie doch lieber eines kaufen. Das ist in Montenegro kein Problem. Viele Häuser stehen leer.«
»Gibt es wenigstens eine Schule für den Jungen?«
»Bis dahin ist ja noch ein bisschen Zeit. Aber es gibt eine, habe ich mir sagen lassen. Er kann sogar schon ein wenig Serbisch.«
»Na, dann ist ja alles prima. Dann können Sie ja jetzt wieder gehen. Ich bin ein bisschen müde geworden, wie Sie sehen.«
Wieder musste sein Mundwinkel abgewischt werden. Er versuchte den Kopf wegzudrehen, wollte sogar die Frau beiseite schieben, aber sie war stärker und geschickter als er.
»Sie sind ja immer noch da«, knurrte er, als die Prozedur überstanden war. Sein Atem ging rasselnd. Der Sauerstoff zischte leise.
»Haben Sie gewusst, dass Tim nicht der Sohn Ihrer Frau war?«
»Geahnt. Geahnt habe ich es. Sie ist bei so unendlich vielen Quacksalbern gewesen, und das Ergebnis war doch immer das Gleiche: Sie konnte keine Kinder mehr bekommen nach der zweiten Fehlgeburt. War das ein Geheule und Gejammer von morgens bis abends. Und dann, auf einmal, ruft sie an und verkündet, sie sei schwanger, und alles liefe diesmal ganz problemlos.«
Jörgensen musste eine lange Pause machen, um wieder zu Atem zu kommen. Dann fuhr er fort:
»Und ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, dass ich in der fraglichen Zeit mit ihr geschlafen hätte. Aber – na ja – werde ich wohl mal wieder besoffen gewesen sein, habe ich gedacht. Und im Grunde war’s mir ja auch egal. Muriel kriegte endlich das Kind, das sie so unbedingt wollte, und war glücklich. War doch alles prima.«
»Bis auf eine winzige, aber wichtige Kleinigkeit.«
»Was?«
»Es geht um Tims Vater.«
Jörgensen brachte ein schiefes Grinsen zustande.
»Ratko, die alte Ratte. Hätte nie gedacht, dass der überhaupt noch einen hochkriegt. Der arme Kerl kann einem leidtun, wenn man Iva kennt. Sie ist eine Katze.«
»Ratko ist nicht Tims Vater.«
Mühsam hob er den Kopf. »Was Sie nicht sagen! Wer dann?«
»Können Sie sich auch nicht mehr daran erinnern, dass Sie damals hin und wieder mit Iva geschlafen haben?«
Ein Schimmer von Fröhlichkeit stahl sich in seine Augenwinkel.
»Die kleine Iva ist ein ganz schön freches Stück. Hat mich nicht viel Überredung gekostet, sie rumzukriegen, aber … Moment mal …?«
Über sein graues, vom Tod gezeichnetes Gesicht tobte ein Sturm aus Angst, Freude, verständnislosem Schrecken, ungläubigem Glück.
»Ich …?«
»Sie.«
»Sie … sie hat gesagt, sie nimmt die Pille!«
»Tja.«
Lange war es still. Der Sauerstoff zischte. Irgendwo tickte eine elektrische Uhr. Hermann Jörgensen starrte auf einen bestimmten Punkt an der Wand, wo es absolut nichts zu sehen gab. Hin und wieder schüttelte er den Kopf, bewegte stumm den Mund. Einmal grinste er blöde, um im nächsten Moment wieder ernst zu werden.
Schließlich suchte er meinen Blick und winkte mich zu sich.
»Erwarten Sie jetzt bloß nicht«, flüsterte er und hustete. »Erwarten Sie jetzt bloß nicht, dass ich mich dafür bedanke, dass Sie mir den verdammten Revolver abgenommen haben, Herr Kriminalrat.«
Nur um ihn zu ärgern und obwohl ich von meiner kommenden Beförderung offiziell noch immer nichts wusste, verbesserte ich: »Wenn schon, dann Kriminaloberrat, bitte.«
Er grinste sein Totenkopfgrinsen und drückte meine Hand mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war.
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