Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
antwortete die Erste Kriminalhauptkommissarin Klara Vangelis an meiner Stelle. Sie hatte sich in der Nähe umgesehen und gesellte sich eben wieder zu uns. »Er wird sich verfahren haben.«
Irgendwo, nicht allzu weit entfernt, begann ein Glöckchen zu bimmeln.
Es war später Nachmittag, wir standen in einem lichten Buchenwald unweit von Beerfelden, und in Gedanken war ich schon bei der Pressekonferenz, an der ich als Chef der Heidelberger Kriminalpolizei am nächsten Vormittag wieder einmal würde teilnehmen dürfen. »Entführter Junge nach über zwei Monaten tot aufgefunden« würde noch die harmloseste Schlagzeile sein. »Heidelberger Kripo versagt auf der ganzen Linie« vielleicht nicht einmal die schlimmste.
Obwohl ich seit zwanzig Jahren nicht mehr rauchte, überfiel mich plötzlich eine fast übermächtige Lust auf eine Zigarette.
Anfang August war es gewesen, als die Eltern von Gundram Sander ihr einziges Kind als vermisst meldeten. An einem hitzeflirrenden Sonntagnachmittag hatte der Junge draußen gespielt, wie er es schon oft getan hatte. In einem wohlhabenden Viertel Sandhausens, eines Städtchens etwa zehn Kilometer südlich von Heidelberg, wo abgesehen von gelegentlichen Einbrüchen oder handgreiflichen Ehestreitigkeiten seit Jahren nichts Erwähnenswertes vorgefallen war. Am Tag seines Verschwindens war Gundram sechs Jahre und zehn Monate alt gewesen. Ein aufgewecktes Kind, das von niemandem Süßigkeiten annahm und niemals, niemals, niemals freiwillig in ein fremdes Auto steigen würde, wie die Mutter ein ums andere Mal beteuert hatte.
Wie in solchen Fällen üblich, hatten die zuständigen Kollegen die Angelegenheit zunächst mit gebremstem Schaum behandelt und versucht, erst einmal die aufgelösten Eltern zu beruhigen. Nahezu stündlich verschwand irgendwo in Deutschland ein Kind, nur um kurze Zeit später mehr oder weniger vergnügt und mehr oder weniger fern von zu Hause aufgefunden zu werden. Nahezu jeden Jungen übermannte früher oder später der Drang, die Welt zu entdecken. Mädchen machten gern irgendwann ihren ersten Einkaufsbummel auf eigene Faust. Ein pfiffiger Knirps von dreieinhalb Jahren hatte es letzten Sommer mit dem Intercity bis nach Hannover geschafft, indem er sich einfach neben ein älteres Paar setzte und so tat, als gehörte er zur Familie.
Aber Gundram tauchte nicht wieder auf. Nicht nach vier Stunden und nicht nach sechs und auch nicht am nächsten Tag. Das Handy, das er auf Wunsch seiner Eltern immer bei sich trug, war etwa eine Viertelstunde, nachdem er das Haus verlassen hatte, aus dem Netz verschwunden und nicht mehr zu orten gewesen. Es gab keine Spuren, keine Zeugen, nichts. So gerieten unsere Ermittlungen bald ins Stocken, und ebenso bald waren die Eltern nicht mehr gut auf mich und meine Mitarbeiter zu sprechen.
Erst gab es einige unerfreuliche Anrufe, und schon am dritten Tag warfen sie der Polizei öffentlich Untätigkeit und später Schlimmeres vor. Was hatten sie erwartet? Dass wir gleich mit Hundertschaften jeden Winkel der Umgebung absuchten? Mit Lautsprecherwagen durch die Straßen fuhren? Hundestaffeln durchs Gelände scheuchten? All das war selbstverständlich geschehen, aber erst in den folgenden Tagen und Wochen.
Und leider erfolglos. Gundram Sander blieb verschwunden.
Auf der Suche nach Zeugen läuteten die Mitarbeiter der zunächst kleinen, später großen Sonderkommission an jedem Haus im Viertel. Mit allen erdenklichen Mitteln versuchten sie, Menschen aufzutreiben, die zur fraglichen Zeit etwas beobachtet oder wenigstens einen kleinen Jungen auf seinem Rad gesehen hatten. Gleichzeitig steigerten sich die Eltern immer weiter in ihren Zorn auf die Polizei hinein. Eine Woche nach dem Verschwinden ihres Kindes begannen sie mit Inbrunst und leider auch beachtlichem Erfolg, die Presse auf uns zu hetzen.
Die Stare flogen auf und schwirrten in einem wirbelnden Schwarm davon. Ich beneidete sie. Einfach fortfliegen dürfen, einfach alles hinter sich lassen: den Stress mit ernstlich besorgten Staatsanwälten und den Ärger über neunmalkluge Zeitungsschreiber, die Sorgen um einen verschwundenen Jungen, der nach aller Erfahrung und Wahrscheinlichkeit längst nicht mehr lebte.
Wieder ein Knochen. Ein kleiner, diesmal. Auch mir wurde allmählich übel.
»Bisschen arg verwest für zehn Wochen«, meinte Vangelis leise zu mir. »Da ist ja praktisch schon nichts mehr dran!«
Spätestens morgen Abend würde ich mich wieder einmal im Fernsehen
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