Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Umstand war für das, was nun folgen würde, möglicherweise von Vorteil.
»Heute Vormittag sind endlich die Ergebnisse aus dem Labor in Wiesbaden eingetroffen«, begann ich.
»Welche Ergebnisse?«, fragte sie teilnahmslos.
»Der Untersuchung des Erpresserbriefs. Es wurden leider keine Spuren daran gefunden, die uns einen Hinweis auf den oder die Entführer geben könnten. Der Mensch, der ihn angefertigt hat, wusste sehr genau, was er tat.«
»Wundert Sie das?«
»Natürlich nicht. Das eigentlich Interessante an dem Bericht ist für mich aber die Stellungnahme der forensischen Linguistin.«
»Was ist das?«
»Eine Spezialistin für die Auswertung des Schreibstils.« Ich zog ein Papier aus der Innentasche meines Jacketts, faltete es auseinander und begann zu lesen: »Der Verfasser oder die Verfasserin hat vermutlich Abitur, mit gewisser Wahrscheinlichkeit sogar einen Hochschulabschluss. Er dürfte einem gebildeten, bürgerlichen Milieu entstammen. Die deutsche Orthografie beherrscht er fehlerlos. Stil und Wortwahl lassen auf mittleres Alter schließen. Die Gesamtsicht legt die Vermutung nahe, dass der Text von einer gebildeten, möglicherweise weiblichen Person im Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahren verfasst wurde.«
Während ich las, beobachtete ich die Frau am Fenster ständig. Äußerlich blieb sie völlig ruhig. Aber ihr Blick im Spiegel des Fensterglases hatte sich verändert. Sie beobachtete jetzt mich.
Inzwischen war mein Tee so weit abgekühlt, dass man ihn trinken konnte. Ich leerte die Tasse und füllte sie sofort wieder auf.
»Ich will Ihnen die Geschichte erzählen, so wie ich sie mir zusammenreime. Manches weiß ich, vieles kann ich nur vermuten.«
»Wird am Ende Ihrer Geschichte eine Verhaftung stehen?«, fragte sie so ruhig, als ginge es um das Schicksal einer Fremden.
»Nein. Möchten Sie noch Tee?«
»Wenn ich dabei hier stehen bleiben darf.«
Ich erhob mich und füllte ihre Tasse. Einige Tropfen gingen daneben, aber sie schien es nicht zu bemerken. Wieder an meinem Platz, faltete ich die Hände, sah auf den Tisch und begann mit meiner Erzählung.
»Meine Geschichte beginnt mit einer einsamen Frau. Einer Frau, deren Mann oft für lange Zeit nicht zu Hause ist. Sie hatte es nie leicht im Leben, obwohl sie in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen ist. Im Grunde hat sie jedoch alles bis auf eines: ein Kind.«
»Ich weiß nicht, was sie mit den toten Kindern machen«, flüsterte sie wie zu sich selbst. »Ich will es auch nicht wissen. Aber begraben werden sie nicht.«
»Der Kinderwunsch der Frau wird von Jahr zu Jahr brennender. Zwei Schwangerschaften scheitern, und irgendwann muss sie sich eingestehen, dass sie niemals Mutter sein wird.« Auch ohne hinzusehen, bemerkte ich, wie ihre Hände mit der Tasse allmählich herabsanken.
»Sie mischt sich nicht gerne unter Leute. Sie lebt zurückgezogen in ihrem viel zu großen Haus, und oft ist ihr kalt.«
Täuschte ich mich, oder war das Geräusch des Regens leiser geworden?
»Eines Tages findet sie eine Freundin. Ein großer Lichtblick in ihrem stillen Leben. Zunächst ist diese Freundin allerdings nur eine Hausangestellte. Aber sie ist so lebendig und so stark und lebensfroh. Sie lacht gerne und viel, obwohl auch sie Schlimmes durchgemacht hat und außerdem unter einem gewalttätigen Mann zu leiden hat.«
Muriel Jörgensen lauschte still. Dann, als wäre sie plötzlich aufgewacht, nahm sie die Tasse wieder hoch, um daran zu nippen.
»Eines Tages geschieht etwas, was sich erst nach einiger Zeit als Glücksfall herausstellt. Zunächst einmal ist es ein Problem: Die Freundin wird schwanger.«
Ich machte eine Pause, um das letzte Wort wirken zu lassen.
»Aber sie will und kann das Kind nicht bekommen. Sie lebt illegal in Deutschland, sie hat keine Papiere, vermutlich auch keine Krankenversicherung und vor allem zu wenig Geld, um ein Kind großzuziehen. Hinzu kommt: Ihr halb wahnsinniger und alkoholkranker Mann taugt nicht zum Vater. Vielleicht fürchtet sie sogar, er könnte dem Kind etwas antun. Der einzige Ausweg scheint eine Abtreibung zu sein. Aber auch dazu fehlt ihr das Geld. So beichtet sie ihr Problem schließlich ihrer Arbeitgeberin und Freundin. Und dann haben die beiden eine geradezu geniale Idee.«
Noch immer hatte sich ihre Haltung nicht verändert.
»Ich nehme an, Tim ist nicht wirklich auf Korfu zur Welt gekommen?«
»Doch«, hauchte sie und hustete. »Iva hat sich um alles gekümmert. Sie kennt so unglaublich
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