Alfons die Weihnachtsgans
wir hinauslaufen?«
»Nein, im Gegenteil, wir bleiben hier. Ich will dir die Steine zeigen.«
Martin beugte sich hinunter. »Was sind denn das für Knubbel auf den Steinen? Warzen?«
»Austern.«
»Nein! Du veräppelst mich! So viele Austern gibt es ja gar nicht. Sieht eher aus wie eine Steinkrankheit.«
»Wetten, dass nicht?« Tore zog sein Taschenmesser aus der Hose, brach eine nur lose sitzende Auster vom Stein ab und schob die Klinge zwischen Ober- und Unterschale. Dann präsentierte er Martin die Unterschale mit Austernwasser undherausgelöstem Fleisch. Wie man es fachgerecht machte, hatte Opa ihm gezeigt.
Zu seiner Verwunderung griff Martin sofort zu, schlürfte genießerisch das Wasser und schluckte das Fleisch hinunter, ohne lange zu kauen. »Donnerwetter«, staunte er. »Davon hat mir niemand erzählt. Die wachsen hier ja dichter als in der Bretagne.«
»Kann sein. Wir essen sie nicht«, bekannte Tore.
»Nein?«
»Nein. Opa nicht, weil sie ohne Batterien funktionieren, ich nicht, weil es lebende Tiere sind.«
»Sie sind sehr delikat. Besser als Schmorbraten vom Esel. Du hast mich darauf angesprochen, weißt du noch?«
»Aber nicht als Essen. Ich wollte nur wissen, ob du sie kennst.«
»Ich weiß schon. Ich war damals ...«
»Verärgert.«
»So ungefähr. Ich muss die Austern unbedingt fotografieren.«
»Ich weiß eine bessere Stelle. Komm mit.«
Tore führte ihn an der Buhne entlang weiter nach draußen, mal dicht an den Steinen, mal im Wasser, einem schmalen Rinnsal, das parallel zur Buhne bis zum Ufer führte, wo es von der Hallig aus einer Röhre strömendes Wasser aufnahm.
»Ist es wirklich nicht gefährlich?«, erkundigte sich Martin.
»Nein, nein. Tiefer als bis zu den Unterschenkeln sinkt man meistens nicht ein.«
»So tief? Na, ja.« Martin versuchte zu verbergen, dass er erschrocken war, und Tore grinste teilnahmsvoll.
Er blieb stehen und zeigte auf die Steine. »Siehst du? Hierwachsen Austern, die unterschiedlich alt sind, die allerkleinsten stammen vom letzten Jahr.«
»Millionen«, stammelte Martin und blickte um sich. »Hoffentlich sind sie geschützt.«
»Nein, im Gegenteil. Eine Austernzuchtfirma hat die Erlaubnis bekommen, sie zu ernten. Von der Landesregierung Schleswig-Holstein. SPD und Grüne. Die Grünen haben auch ihr Okay gegeben.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe Paps von den Austern erzählt. Und der hat herumtelefoniert, bis zur Regierung in Kiel. Er ist zwar Mathematiker, aber er findet nicht, dass eine Firma wilde Austern zum Verkauf auf eigene Rechnung einsammeln darf. Wenn überhaupt, gehören sie den Langenessern.«
»Dein Paps ist in Ordnung.« Martin schob seine Pudelmütze nach hinten und kratzte sich am Kopf. Das kannte Tore. Die Dinger juckten gewaltig, wenn einem vor Aufregung warm wurde. »Was haben die in Kiel gesagt?«
»Dass die Firma keine Gefahr für die Austern darstellt.«
Martin nickte, als hätte er es nicht anders erwartet. »Typisch! Die einheimischen Austern in England sind schon lange weggefressen, die Haibestände sind gefährdet, weil reiche Japaner nur mit Haifischflossen überleben können, die Walbestände nehmen dramatisch ab, weil Japaner, Norweger und Isländer Hundefutter brauchen, die Nashörner sterben, weil chinesische Männer ohne Horn nicht einmal mehr das einzige erlaubte Kind zeugen können, Tiger brauchen sie, um im Bett glücklich zu sein, und so weiter.«
Tore staunte ihn mit offenem Mund an. So etwas hatte er Martin nicht zugetraut. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Vor einem Jahrhundert oder so wollten die Politiker die Halligsogar aufgeben. Stell dir vor! Alle Bewohner sollten aufs Festland umgesiedelt werden ...«
Martin rang einen Augenblick mit sich und fasste dann einen Entschluss. »Was meinst du, soll ich einen Bericht über die Austern schreiben, der die Öffentlichkeit gegen die kapitalistischen Ausbeutermethoden aufrüttelt?«
»Wäre ganz prima!«, rief Tore begeistert. »Ein echtes Weihnachtsgeschenk für die Hallig!«
Nachdem Martin die Austern von allen Seiten fotografiert hatte, auf den Steinen, im fließenden Wasser, voll Schlick und gesäubert, mit und ohne Pocken, in allen Lebenslagen gewissermaßen, machte er zufrieden Schluss.
Tore, der die See beobachtete und sah, wie der Nebel sich langsam wieder über Wyk und die Norderaue zwischen Föhr und Langeness senkte, fing an zu frieren. Martin hatte im Wasser gekniet und war an den Hosenbeinen nass, aber vor lauter Begeisterung merkte
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