Alfons die Weihnachtsgans
erwähnt. Inzwischen lag sie mit hohem Fieber selbst im Bett.
Calle sei so schwach, verstand Anke allmählich zwischen Hustenanfällen, Atemnot und Bericht, dass er kaum ein Messer heben konnte, geschweige denn, den Ganter einfangen.
»Kommt ihr denn zurecht?«, fragte Anke, die sich mehr um die Verwandten als um den Braten sorgte. Keine Frage, dass ihr betagter Onkel geschont werden musste. »Solltet ihr nicht lieber ins Krankenhaus gehen?«
»Nein«, keuchte Calle. »Wir haben alle Pflege, die wir benötigen. Arzt und Nachbarn. Es geht mir darum, dass ihr nicht verhungert.«
Anke wollte widersprechen, aber der Onkel ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Wir schaffen es in diesem Jahr nicht, selbst zu schlachten, Anke. Du bekommst Alfons, keine Angst. Er reist im Käfig an, statt gefroren. Gleiche Lore. Du wirst jemanden finden müssen, der ihn schlachtet ...« Der Telefonhörer klapperte unruhig, und die Verbindung war unterbrochen.
Besorgt ließ Anke ihren eigenen Hörer auf die Gabel sinken. Hoffentlich stimmte es auch, dass sich jemand um Onkel Calle und seine Frau kümmerte. Sie würde sich bei den Nachbarn vergewissern. Sie fand es rührend, dass Calle sich wie in alten Zeiten um sie und den Besuch sorgte.
Eigentlich war dies nicht nötig. Seit mehreren Jahrzehnten gab es auf der Hallig Wasser aus dem Wasserwerk vom Festland, Strom ebenfalls – bei Ausfall von halligeigenen Notstromaggregaten –, und jeder hatte Lebensmittelvorräte in den Gefriertruhen. Kranke wurden von der Halligschwester betreut, bei schwererer Krankheit mit dem Boot des Seenotrettungsdienstes nach Wyk geholt oder, schlimmstenfalls, mit dem Hubschrauber in ein Krankenhaus auf dem Festland geflogen. Soweit zumindest die Theorie, und natürlich gab es Extremsituationen, in denen das alles nicht funktionierte.
Die Grippe war jedenfalls wesentlich schlimmer als ein fehlender Weihnachtsbraten. Und dennoch sollte jetzt ein quicklebendiger Ganter namens Alfons mit der Lore anreisen. Anke musste sich überlegen, wer ihn schlachten sollte. Sie jedenfalls nicht. Aber ihr würde schon jemand einfallen.
Nicht sonderlich beruhigt, ging Anke daran, die Figurengebäcke für den Kinkenboom vorzubereiten, dem sie allemal den Vorzug vor dem Weihnachtsbaum gab. Mehl, Zucker, Wasser und Hefe würde sie zu einem Teig verkneten, ganz einfach. Daraus würde sie Schwein, Bock, Hahn, Kuh und Pferd, vielleicht auch ein Schiff ausstechen, mit dem Saft der roten Beete bestreichen und backen.
Das Schwein als Gebäck war nichts anderes als ein Marzipanschwein und die Schweinebacke als Braten. Hier im Norden liebte man das Schwein. Niemals wäre ihr eingefallen, ein Schaf in die Backröhre zu schieben, wie man es gelegentlichvom Festland hörte; diese Tiere waren vielmehr für die Lieferung von Wolle zuständig, und das Jahr um Jahr. Wer würde denn so dumm sein, ein Tier zu schlachten, das Weidegras zuverlässig in Rohmaterial für Socken, Mützen und Handschuhe verwandelte? Schafe waren auch niemals unter dem traditionellen Gebäck.
Adam und Eva der Bibel, nackt auch noch, gehörten zwar dazu, entstammten aber dem Alten Testament und machten sich in einer Sammlung lauter für die Halligleute wichtiger Symbole etwas absonderlich aus. Aber natürlich gab es auch Neuerungen bei Bräuchen. Das musste man akzeptieren.
Anschließend telefonierte Anke unter dem Siegel der Verschwiegenheit herum. Sie brauchte vier Freiwillige, um ihre Idee umzusetzen ...
Kapitel 3
A n dem Tag, als die Schulkinder in die Weihnachtsferien entlassen wurden, ließ der strenge Frost endlich ein wenig nach. Tores Vater fuhr seinen Sohn nach Dagebüll zum Lorenbahnhof, einem weiten Platz, auf dem unterhalb des Seedeiches und vor einem kleinen roten Leuchtturm die Schmalspurbahn von den Halligen Langeness und Oland endete.
Steine, Pfähle, Ersatzschienen und anderes Baumaterial lagen in ordentlichen Stapeln bereit zum Verladen, einige Kipploren reihten sich auf dem Abstellgleis. Aber kein Mensch war auf dem Platz, die Arbeiten waren wegen des Frostes eingestellt worden.
Auch der Postschiffer, so genannt, weil er im Sommer diePost mit dem Boot vom Festland holte, war noch nicht aus der Stadt zurück. Nur seine offene Lore stand als letzte in der Reihe der übrigen.
Tore kletterte schon mal hoch, um Gepäck und Geschenke entgegenzunehmen und ordentlich unter den Sitzbänken zu verstauen. Wie auf ihrem Schiff. Der Kasten neben dem Motor war für die Post reserviert und durfte für anderes
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