Ich kann so nicht mehr arbeiten!: Freude und Sinn statt Seeleninfarkt (German Edition)
WIE SICH DIE BERUFLICHE REALITÄT OFT ANFÜHLT
»Deinem Ziel nachstrebend, siehst du manches nicht, was nah vor deinen Augen steht.«
Herman Hesse
Die Frage ist nicht, ob wir etwas begreifen, die Frage ist nur, wann und wie weh es bis dahin tut. In meiner Zeit als junge Wirtschaftsanwältin lernte ich Eduard kennen, einen von zwei geschäftsführenden Gesellschaftern eines mittelständischen Unternehmens, das weltweit Abfüllanlagen konzipierte und installierte. Einige Jahre später hörte ich, dass das Unternehmen Insolvenz anmelden musste. Daraufhin verlor Eduard mit 56 Jahren große Teile seines Vermögens, sein Ansehen als Kaufmann, seine Familie und seine Gesundheit. Vor Kurzem sind wir uns erneut begegnetet. Eduard sieht sich heute mit Mitte sechzig gezwungen, als Fremdgeschäftsführer zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
»Hätte ich doch schon vor Jahren angefangen, zu tun, was mir guttut«, sagte er mit traurigem Blick. »Ich habe viel Schönes erlebt. Aber wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, habe ich immer nur die Erwartungen anderer erfüllt. Solange das Geld floss, stellte ich mein Treiben nicht infrage. Ich tauschte mein Leben für Geld, Gut und Ansehen ein. Was würde ich darum geben, noch einmal von vorn beginnen und bei allem, was ich tue, ich selbst sein zu können!«
Eduard scheint seine Chancen vertan zu haben. Jedenfalls bleibt ihm nicht mehr allzu viel Zeit, um nachzuholen, was ihm beruflich entgangen ist. Eduard bedauert rückblickend nur das, was er nicht gewagt hat.
Hans-Günther befand sich in einer anderen beruflichen Situation, als es an ihm zu nagen begann und er das erste Mal das Gespräch mit mir suchte. Hans-Günther, Ende vierzig, ist für den weltweiten Verkauf der Produkte eines mittelständischen Maschinenbauunternehmens verantwortlich. Er hat eine klare Vorstellung davon, was Erfolg ist. Etwas leisten, sichtbar sein, bewundert werden, etwas gestalten, die Richtung vorgeben und wohlhabend sein. Seine Umgebung liest seinen Erfolg an dem ab, was er erreicht hat: sein Direktorentitel, sein Firmenwagen, sein prächtiges Haus, seine Vielflieger-Karten, die Events, zu denen er eingeladen wird, seine internationalen Geschäftskontakte, seine Harley, die Orte, in die er geschäftlich reisen und das Business dirigieren kann. »Wo ich bin«, sagt Hans-Günther regelmäßig stolz, »da ist vorn.« Er bestimme, wo für ihn und andere die Messlatte liege. Die gesellschaftliche Anerkennung und die Annehmlichkeiten, die seine Position mit sich bringe, vermittelten ihm das Gefühl, Spaß bei seiner Arbeit zu haben. Trotz all der Plackerei, der endlosen Stunden im Dauereinsatz, meist sieben Tage die Woche, der vielen einsamen Momente in immer wechselnden Hotelzimmern und trotz der regelmäßig wiederkehrenden Gefechte zur Erhaltung seiner Macht, gehe er davon aus, ein beneidenswertes Berufsleben zu führen. Zugegeben, er habe keine Zeit für seine Frau und die beiden Kinder, für Freundschaften aus alten Zeiten und für ein Hobby schon gar nicht. Aber das ergehe allen auf seinem beruflichen Level so. Das müsse man als notwendiges Übel in Kauf nehmen.
Hans-Günther bezeichnet sich als Realist. Die allermeisten Menschen in unseren Unternehmen, so sagt er, sorgten erst einmal für sich selbst, denn es sei nicht genug für alle da und da müsse man sehen, wo man bleibt. Man müsse hart arbeiten, um besser zu sein als die anderen, rennen, machen, tun und kämpfen, um seine Ziele zu erreichen. Menschen aus seinem Arbeitsumfeld beschreiben Hans-Günther als selbstbewusst, energisch, freundlich und verbindlich, aber innerlich distanziert und gefühlskalt. Irgendwie unnahbar. Wo er keine eigenen Interessen zu verteidigen habe, engagiere er sich nicht. Stattdessen kommentiere er in epischer Breite, was bei den Kollegen und der Konkurrenz schieflaufe, um sich auf diese Weise selbst darzustellen. Dieses Feedback seiner Kollegen hält Hans-Günther für richtig, auch wenn es ihn schmerzt.
Hans-Günther konsumiert seit Jahren Tabletten und Alkohol, um Schmerzen, Schlafstörungen, Ohrengeräusche, Nervosität und dauerhafte Unruhe im Körper zum Schweigen zu bringen. All das soll um Himmels willen nicht auffallen. Schwäche zu zeigen oder zuzugeben, dass man verwundbar oder gar krank ist, wäre der Anfang vom Ende der Karriere. Beruflich, sagt Hans-Günther, sei er gezwungen, mit Kunden zu essen und zu trinken, und zwar regelmäßig und viel. Das werde erwartet. Dass er dabei weit mehr
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