Alfons die Weihnachtsgans
dem Eis ganz und gar verschwunden, obwohl derzeit Ebbe war. Die Eisbildung ging immer schnell vonstatten, aber Anke staunte doch, wie der Eisberg allein seit dem Vortag gewachsen war. Bis weit in den Westen, wo das Ufer hinter der Trojburg außer Sicht geriet, sah sie den weißen Saum, und im Osten war es genau so.
Die ganze Hallig war von einem Ring aus Eis umgeben. Schön sah es aus!
Als Anke wieder zur Ketelswarf hochgestiegen war, kam ihr der Nachbar entgegen. »Moin, Krischan«, grüßte sie.
»Moin, Anke.« Krischan, trotz der Kälte nur in der häuslichen Wolljacke, das graue Haar unbedeckt, blieb auf demRingwall neben der Bockmühle stehen und spähte mit zusammengekniffenen Augen nach Westen, über die Hallig und über die See.
Ungeduldig und etwas unzufrieden wirkte er, fand Anke. Oder beunruhigt? Sie drehte sich um und hielt ebenfalls Ausschau. Vor der Hallig Hooge manövrierte gerade die Fähre, man konnte sie als weißen Fleck vor dem dunklen Tor des Fähranlegers gut ausmachen. In einer halben Stunde würde sie bei der Rixwarf auf Langeness anlegen. »Du fütterst auch schon die Vögel, habe ich gesehen. Kommen sie denn bei dir?«
»Was? Ja. Ja, doch, sie kommen.«
»Ist etwas los?«, fragte Anke behutsam.
»Ich habe gerade bei der Fährgesellschaft angerufen«, antwortete Krischan missgestimmt und versteckte seine Hände unter den Achseln, um sie zu wärmen. »Sie bezweifeln, dass die Hilligenlei heute anlegen kann. Zu viel Eis an der Rixwarf. Sie wollen es noch mal versuchen. Morgen nicht mehr.«
»O je«, sagte Anke teilnahmsvoll. »Dein Tannenbaum für das Wohnzimmer kommt wohl?«
»Stimmt. Aber der wäre zu verschmerzen. Viel schlimmer ist, dass ich übermorgen den Tankwagen mit Heizöl erwarte. Einige andere auch. Insgesamt habe ich Öl für sieben Häuser bestellt. Die Lieferung ließ sich nicht mehr für heute umorganisieren.«
»Oh!« Jetzt war Anke richtig betroffen. Wenn es nicht bald taute, würden einige Halligleute Weihnachten im Kalten oder in notdürftig durch Radiatoren erheizten Zimmern verbringen. Sie selbst hatte damit kein Problem, bei ihr heizten Nachtspeicheröfen. »Vielleicht geschieht ein Wunder, ein kleines Weihnachtswunder«, sagte sie lächelnd.
Krischan schüttelte missmutig den Kopf. »Wunder gibt esnicht, wie wir alle wissen. Oder hast du schon mal eines erlebt? Der Wetterbericht sagt anhaltende Kälte voraus. Und die Wetterfrösche in Hamburg haben mir keine Hoffnung gemacht. Ich habe auch dort angerufen.«
»Ich drücke allen, die am Tropf vom Öl hängen, die Daumen«, versprach Anke und machte sich auf den Weg zu ihrem eigenen Haus. Sie begann allmählich zu frieren.
Plötzlich fiel ihr siedendheiß etwas ein! Wenn die Fähre nicht anlegen konnte, würde auch ihr Braten nicht rechtzeitig ankommen!
Wie hieß er noch? Alfred? Nein, Alfons! Der Weihnachtsbraten namens Alfons.
Das Wetter blieb unverändert kalt. Der Eiswall um die Hallig wuchs, und die Fähre konnte unmöglich anlegen. Für Anke war es keine Katastrophe, weil ihr Gefrierschrank für ihren eigenen Bedarf gut gefüllt war und sie es warm hatte, aber es bedeutete eine Menge an Umorganisation für den Weihnachtsbesuch. Richtig Arbeit.
Die Kinder und Enkel würden von Dagebüll über Oland kommen müssen. Mit der Lore, wodurch das eigene Auto für Gepäck und Geschenke ausfiel. Einen Tag davor der große Ganter, damit er Zeit hatte, aufzutauen.
Da viele Halligleute jetzt das gleiche Problem hatten, würde es eng werden mit den Transportmöglichkeiten. Manche hatten sich sicherlich auch noch die Fahrt nach Husum zum Kaufen der Geschenke aufgespart. Die Lorenschienen würden kaum zur Ruhe kommen von dem Hin und Her der Halligleute, wenn diese nach dem Feierabend der Deichbauern vom Marschenbauamt, dem die Strecke gehörte, endlich fahren durften.
Anke saß einen halben Vormittag am Telefon, aber dann war doch alles zu ihrer Zufriedenheit abgesprochen. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass kein weiterer Zwischenfall ihre sorgfältige Planung zunichte machte.
Der Zwischenfall trat bereits am nächsten Morgen ein. Anke ahnte es schon, als sie die krächzende Stimme am Telefon hörte, ohne zunächst den Anrufer überhaupt zu erkennen.
Lang anhaltendes Husten, Räuspern. Dann merkte Anke endlich, dass sie mit Onkel Calle sprach.
Schwere Grippe. Aha, deswegen hatte Anke gestern mit seiner Frau geschwatzt und nicht mit ihm selbst. Eine Krankheit im Haus hatte sie wohl vorsichtshalber nicht
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