Alibi
sehr unbehaglich zu Mute. Allerhand Ahnungen bestürmten mich.
«Bitte, überzeugen Sie sich, ob das Fenster geschlossen ist», bat er.
Ich stand auf und kam seinem Wunsch nach.
Es war keine Balkontür, sondern ein gewöhnliches Schiebefenster. Schwere blaue Vorhänge waren vorgezogen, doch das Fenster selbst stand offen.
Während ich noch dort stand, kam Parker mit meiner Tasche zurück.
«Es ist geschlossen», sagte ich und trat wieder ins Zimmer zurück.
«Haben Sie den Riegel vorgeschoben?»
«Ja, ja. Was ist mit Ihnen los, Ackroyd?»
Soeben schloss sich die Tür hinter Parker, sonst hätte ich die Frage nicht gestellt. Geraume Zeit verstrich, ehe Ackroyd sich zu einer Antwort entschloss.
«Ich leide Höllenqualen», sagte er leise. «Nein, bemühen Sie sich nicht wegen der verdammten Tabletten. Das galt Parker. Dienstboten sind oft so neugierig. Setzen Sie sich zu mir. Die Tür ist doch zu?»
«Ja. Niemand kann uns belauschen. Seien Sie unbesorgt!»
«Sheppard, niemand weiß, was ich seit vierundzwanzig Stunden leide. Wenn jemals eines Mannes Haus über seinem Kopf zusammenbrach, so war es das meine. Die Sache mit Ralph ist das wenigste. Darüber wollen wir jetzt nicht sprechen. Doch das andere – das andere –! Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Und ich muss möglichst bald zu einem Entschluss gelangen.»
«Was ist denn los?»
Ackroyd schwieg minutenlang, als ob das Reden ihn Überwindung kostete. Als er endlich begann, traf mich seine Frage völlig unvorbereitet. Nichts hätte mich mehr überraschen können.
«Sheppard, nicht wahr, Sie haben Ashley Ferrars während seiner letzten Krankheit behandelt?»
«Ja.»
Die nächste Frage schien ihm noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten.
«Hatten Sie nie den Verdacht, dass – nun, dass er vielleicht vergiftet worden sei?»
Ich schwieg einige Minuten, um mir eine Antwort zurechtzulegen. Roger Ackroyd war nicht Caroline.
«Ich will Ihnen die Wahrheit sagen», gab ich zurück. «Damals schöpfte ich noch keinerlei Verdacht, doch dann – nun, dann brachte mich zuerst nur das müßige Geschwätz meiner Schwester auf den Gedanken. Seither werde ich ihn nicht los. Doch glauben Sie mir, ich kann den Verdacht in keiner Weise begründen.»
«Er ist vergiftet worden», sagte Ackroyd.
Er sprach mit dumpfer, schwerer Stimme.
«Von wem?», fragte ich hastig.
«Von seiner Frau.»
«Woher wissen Sie das?»
«Sie hat es mir gesagt.»
«Wann?»
«Gestern. Mein Gott. Zehn Jahre scheinen dazwischen zu liegen.»
Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort: «Verstehen Sie mich, Sheppard? Ich erzähle Ihnen das streng vertraulich. Es soll nicht weiterverbreitet werden. Ich brauche Ihren Rat, ich kann die schwere Verantwortung nicht allein tragen. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.»
«Ich sehe noch nicht klar. Was veranlasste Mrs. Ferrars, dieses Geständnis abzulegen?»
«Vor drei Monaten bat ich Mrs. Ferrars, meine Frau zu werden. Sie lehnte ab. Ich bat wieder, und sie willigte ein. Doch sie lehnte ab, die Verlobung zu veröffentlichen, ehe das Trauerjahr abgelaufen sei. Gestern sprach ich mit ihr und wies darauf hin, dass ein Jahr und drei Wochen seit dem Ableben ihres Mannes verstrichen seien und dass der Veröffentlichung unseres Verlöbnisses daher nichts mehr im Wege stehe. Es war mir aufgefallen, dass sie seit einigen Tagen ein ganz sonderbares Verhalten zur Schau trug. Und jetzt, ganz plötzlich, brach sie völlig zusammen. Sie – sie sagte mir alles. Wie sie dieses Scheusal von einem Gatten gehasst, wie ihre Liebe zu mir entstanden und gewachsen sei, wie sie endlich zu dem schrecklichen Mittel Zuflucht genommen habe. Gift! Mein Gott – kaltblütiger Mord!»
Ich sah den Abscheu, sah das Entsetzen in Ackroyds Gesicht. So hatte er wohl auch Mrs. Ferrars angeblickt. Er ist vor allem ein braver Bürger. Alles Normale, Gesunde und Gesetzmäßige in ihm muss sich wohl in jenem Augenblick von ihr abgewendet haben.
«Ja», fuhr er mit leiser, eintöniger Stimme fort, «sie gestand alles. Allem Anschein nach gibt es einen Menschen, der seit langem alles wusste – und der ungeheure Summen von ihr erpresste. Dieser Druck trieb sie beinahe in den Wahnsinn.»
«Wer ist dieser Mann?»
Da tauchten vor meinem geistigen Auge Ralph Paton und Mrs. Ferrars auf, wie sie Seite an Seite mit einander zugeneigten Köpfen auf und ab gegangen waren. Plötzliche Angst befiel mich. Angenommen, dass … Nein, sicher war das ausgeschlossen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher