Alibi
Deinen Augen. So gehe ich den einzigen Weg der mir zu gehen ü b rigbleibt. In Deine Hände lege ich die Bestrafung jenes Menschen, der mir das Leben im letzten Jahr zur Hölle machte. Ich wollte Dir nachmittags seinen Namen nicht nennen, doch bin ich en t schlossen, ihn Dir jetzt zu sagen. Da ich weder Kinder noch nahe Verwandte habe, die geschont werden müssten, brauchst du die Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Liebster Roger, verzeihe – wenn Du kannst – das Unrecht, das ich Dir zufügen wollte …
Im Begriff umzublättern, hielt Ackroyd inne.
«Verzeihen Sie, Sheppard, aber ich muss dies allein lesen», sagte er mit unsicherer Stimme. «Es ist für mich, nur für mich bestimmt.»
Er steckte den Brief in den Umschlag und legte ihn auf den Tisch.
«Nein», rief ich leidenschaftlich, «lesen Sie ihn jetzt.»
Ackroyd sah mich erstaunt an.
«Verzeihen Sie», sagte ich und fühlte, dass ich rot wurde. «Ich meine nicht, dass Sie vorlesen sollen. Aber lesen Sie, solange ich noch da bin.»
«Nein, ich möchte lieber warten.»
Aus mir selbst unbekannten Gründen drang ich weiter in ihn. «Lesen Sie wenigstens den Namen des Mannes», sagte ich.
Nun ist Ackroyd außerordentlich halsstarrig. Je mehr man ihn zu einer Sache überreden möchte, desto fester steht sein Entschluss, es nicht zu tun. Alle meine Bemühungen waren vergeblich.
Zwanzig Minuten vor neun hatte er den Brief erhalten. Zehn Minuten vor neun verließ ich ihn, ohne dass er den Brief gelesen hatte. Ich zögerte, die Klinke in der Hand, und blickte nochmals zurück, um mich zu überzeugen, ob ich nicht etwas vergessen hätte. Kopfschüttelnd ging ich hinaus und schloss die Tür hinter mir.
Ich fuhr zurück, als Parkers Gestalt dicht neben mir auftauchte. Er sah verlegen aus. Ob er an der Tür gelauscht hatte?
Welch selbstgefälliges Antlitz dieser Mensch hatte, und wie durchtrieben seine Augen blickten!
«Mr. Ackroyd wünscht ausdrücklich, nicht gestört zu werden», sagte ich kalt, «er bat mich, es Ihnen zu sagen.»
«Sehr wohl, Sir. Mir … war, als wäre geläutet worden.»
Das war eine so greifbare Lüge, dass ich es nicht der Mühe wert fand, darauf zu antworten. Parker schritt vor mir in die Halle, um mir in den Mantel zu helfen, und ich eilte in die Nacht hinaus. Der Mond war von Wolken bedeckt, und alles schien finster und still.
Die Uhr der Dorfkirche schlug neun, als ich durch die Gartenpforte schritt. Ich wandte mich nach links, dem Dorf zu, und wurde beinahe von einem Mann überrannt, der mir entgegenkam.
«Ist dies der Weg nach Fernly Park?», fragte der Fremde mit heiserer Stimme.
Ich blickte ihn an. Er trug den Hut tief in die Stirn gedrückt und hatte den Rockkragen hochgeschlagen. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch schien er jung zu sein. Die Stimme klang rau und ungebildet.
«Hier ist das Gartentor.»
«Danke.» Er zögerte und fügte dann ganz überflüssigerweise hinzu: «Ich bin hier nämlich fremd.»
Er ging weiter, durchschritt das Gittertor, und ich blickte ihm nach.
Das Merkwürdige war, dass mich seine Stimme an jemand erinnerte, den ich kannte, doch fiel mir nicht ein, wer es sein mochte.
Zehn Minuten später war ich wieder zuhause. Caroline war äußerst begierig zu wissen, warum ich so früh zurück sei. Ich musste mir einen halb erdichteten Bericht über den Verlauf des Abends zurechtlegen, um sie zufrieden zu stellen, und ich hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie meine durchsichtige Erfindung durchschaute.
Um zehn Uhr erhob ich mich, gähnte und schlug vor, zu Bett zu gehen. Caroline nickte.
Es war Freitagabend, und am Freitag ziehe ich immer alle Uhren auf. Ich hielt auch diesmal an dieser Gewohnheit fest, während Caroline sich überzeugte, ob die Küchentür ordentlich verschlossen war.
Um Viertel nach zehn stiegen wir die Treppe empor. Ich war eben oben angelangt, als unten in der Halle das Telefon läutete.
«Mrs. Bates», meinte Caroline sofort.
Ich lief die Treppe hinab und ergriff den Hörer.
«Wie?», rief ich. «Was! Natürlich, ich komme sofort.»
Dann sprang ich die Treppe hinauf, griff nach meiner Tasche und stopfte rasch das Notwendigste hinein.
«Parker telefonierte aus Fernly», rief ich Caroline erregt zu. «Sie haben Roger Ackroyd ermordet aufgefunden.»
5
I n kürzester Zeit machte ich den Wagen bereit und raste nach Fernly. Ich sprang hinaus und läutete ungestüm. Endlich vernahm ich das Rasseln einer Kette, und Parker stand in seiner unbeweglich
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