Alicia II
sollen, bevor ich dich hier allein ließ«, sagte sie. »Warum hast du dich nicht hingesetzt?«
»Einer der Sessel hat mich gebissen.«
»Was?«
»Ich weiß es nicht, ich habe einfach vergessen, mich hinzusetzen. Ich will es jetzt tun, okay?«
»Bist du nervös?«
»Wundert dich das?«
»Nein. Möchtest du etwas Beruhigendes?«
»Ich habe so viel getrunken, daß …«
»Ich habe nicht an etwas zu trinken gedacht. Ich habe eine Bibliothek voller Pillen.«
»Nehme ich nie.«
»Ich auch nicht oft.«
»Warum hast du dann so viele?«
»Man kann nie wissen. Ich glaube, jetzt, wo ich daran gedacht habe, werde ich eine nehmen.«
Sie ließ einen Schrank neben der versteckten Badezimmertür erscheinen. Ich achtete nicht darauf, was sie ihm entnahm. Ich habe das Pillenschlucken immer für eine Privatangelegenheit gehalten, eine noch aus der Zeit stammende Einstellung, als man sich des Pillenschluckens irgendwie schämte.
Ich setzte mich in einen weißen, merkwürdig geformten Sessel, dessen Kurven wohl für einen viel kleineren Mann berechnet waren. Nachdem ich Platz genommen hatte, spürte ich, daß er sich mir anpaßte. Alicia setzte sich auf der anderen Seite des Zimmers auf eine Couch. Dabei blähte sich ihre Tunika um sie auf, und als werde der Stoff von Luftströmen gehoben, dauerte es geraume Zeit, bis er niederfiel. Sie strich eine Locke zurück und versuchte, sie mit der Hand an ihren Platz zu drücken.
»Ich hätte mir die Haare kämmen sollen oder so etwas, während ich da drin war. Ich habe einen Haar-Styler, der mir mehrere verschiedene Frisuren machen kann. Aber das Ding geht immer zum falschen Zeitpunkt kaputt. Peinlich.«
»Dein Haar ist schön so, wie es ist.«
»Verwirrt? Struppig? Du bist so höflich, Voss, so ganz Gentleman. Das paßt zu allem anderen, was du vortäuschst.«
»Was ich vortäusche?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen.« Sie streckte die Arme zur Seite; es sah aus, als spiele sie Flugzeug. »Ah, das tut gut. Ich fühle mich besser. Die Pille wirkt. Oder ich gebe mir höllische Mühe, mir einzureden, daß sie wirkt.«
Sie steckte die Hände in Taschen ihres Gewandes, und fast sofort zog sie die linke Hand wieder heraus. Sie begann, eine Reihe von Falten in den glatten Stoff zu legen.
»Unser beiderseitiges Schweigen ist entnervend. Mir gefällt das nicht. Wir sollten reden, quasseln, uns lieben. Entschuldige letzteres, immer noch etwas bitter.«
»Kein Grund, sich …«
»Wir bewahren Abstand. Räumlich meine ich. Sonst auch, wie ich annehme. Vielleicht müssen wir das. Das habe ich geglaubt, bis ich dich wiedersah. Ich meine, mir war bewußt, daß du mir fehltest, aber mir war nicht bewußt, daß ich mir wünschte, dich wiederzusehen.«
»Ich wollte dich wiedersehen. Ich habe dich gesucht.«
»Ich weiß. Ich bin von den meisten deiner Bemühungen unterrichtet. Du bemühst dich nicht genug.«
»Was soll ich denn noch …«
»Ich weiß es nicht. Rosen schicken, in Eingängen versteckt warten, Söldner anheuern. Zum Teufel, woher soll ich es wissen? Als ich dich heute auf der Straße wiedersah, war ich so glücklich, daß ich – nein, darüber sollte ich nicht sprechen.«
Sie strich die Falten glatt und begann mit einem neuen Muster. Die andere Hand kam aus der Tasche zum Vorschein, fand aber keine Beschäftigung. Sie kehrte in die Tasche zurück wie ein Mensch, der Schatten sucht. Alicia sah mich zum ersten Mal, seit sie sich niedergesetzt hatte, gerade an und fragte: »Wie kannst du so ruhig sein?«
»Ich glaube nicht, daß ich ruhig bin.«
»Du glaubst es nicht. Großartig. Was ich – nein, ruhig ist nicht das richtige Wort. Losgelöst. Das ist das Wort, losgelöst. Deine Stimme hat sich von deinem Körper getrennt und spricht von einem Punkt etwa zwei Fuß über deinem Kopf. Gerade oberhalb deines Halo. In
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