Alicia II
Straße, in der sie lebte. Ihr eigenes Haus war moderner und funktioneller, eine Wohneinheit war ohne besonderen Sinn für Architektur auf die andere getürmt. Was mich an dieser Art von Gebäuden immer gestört hat, ist die damalige Vorliebe für verborgene Fenster. Von der Straße aus ließ sich nicht ein einziges entdecken. Das Glas, von außen undurchsichtig, war so behandelt, daß es wie Stein aussah. Deshalb konnte der unten stehende Betrachter die Grenzlinie zwischen Fensterscheibe und Mauer nicht erkennen. Von innen waren die Fenster natürlich normal. Sie erlaubten einen weiten und ausgezeichneten Blick, und ihre Tönung ließ sich einstellen, um den Räumen ein immer wieder anderes Aussehen zu verleihen. Alicias Fenster konnte auch auf andere Ansichten programmiert werden, und zufällig zeigte es die Schweizer Alpen, als wir das Apartment betraten. Das war ziemlich beunruhigend, und es lenkte meine Aufmerksamkeit von der Wohnung selbst ab, denn die Berglandschaft lag in hellem Tageslicht da, und wir kamen gerade aus stockfinsterer Nacht.
Als meine Augen sich angepaßt hatten, sah ich, daß die Wohneinheit ihre Funktionalität in jeder Linie verriet, obwohl Alicia sich Mühe gegeben hatte, die Wirkung aufzuheben. Sie hatte eine ganze Wand mit Spiegeln vollgehängt, damit das einzige Zimmer an Tiefe gewann, aber die Tiefe verdoppelte nur die Öde des Raums. Mehrere mit offensichtlicher Sorgfalt arrangierte Schlingpflanzen unterstrichen die mechanische Langeweile der Ausstattung. Alicias Drucke und Gemälde wirkten, als sei ihnen jede Farbe genommen. Ihre Möbel sahen auf viel zu geschmackvolle Weise steinhart aus, und sie waren auch steinhart. Man konnte einfach nicht viel tun, um die Sterilität einer rechteckigen Wohneinheit zu verbergen, in deren Wänden die lebensnotwendigen Geräte hochgeklappt waren, deren Decke nicht hoch genug war, deren Wände auf einen zuzurücken schienen, wenn man sie länger ansah.
»Setz dich«, sagte Alicia. »Ich werde mich etwa eine Stunde lang im Badezimmer aufhalten. Nein, ich komme zurück, ich muß nur …«
Sie beendete den Satz nicht, ließ eine Tür zur Seite gleiten, die aussah, als ob sie zu einem Wandschrank gehöre (es war damals ebenfalls schick, Badezimmer- und Schranktüren zu verbergen), und ich erhaschte einen Blick auf eine pfirsichfarbene Badezimmerwand, bevor Alicia die Tür hinter sich schloß. Die Konturen der Tür waren so kunstvoll versteckt, daß ich mich einen Augenblick lang fragte, ob Alicia überhaupt im Zimmer gewesen sei.
Sie blieb nicht lange fort. In der Zwischenzeit beobachtete ich einen Skiläufer, der sich auf dem Fensterbild seinen Weg einen der näheren Berge hinunter bahnte. Das Band endete, bevor er den unteren Rand des Fensters erreichte, und ich dachte darüber nach, ob er es letzten Endes schaffen und wie lange es dauern würde, bis er wieder auf den oberen Abhängen des Berges auftauchte. Alicia hatte ein loses, tunikaähnliches Gewand angezogen, dessen Blau darauf abgestimmt zu sein schien, mit dem Himmel über der Berglandschaft zu harmonieren. Doch das war nicht ihre Absicht gewesen, denn sie streckte die Hand nach dem Schalter aus, der die künstliche Aussicht kontrollierte, und fragte mich, ob es mir etwas ausmache, wenn sie abschalte. Ich antwortete, es mache mir nichts aus, obwohl ich immer noch besorgt um jenen Skiläufer war. Alicia stellte den normalen Ausblick auf die Stadt wieder her. Der Himmel hatte jetzt das falsche Blau, das Blau der Nacht. Es machte Alicia blasser, und ich hätte ihr gern vorgeschlagen, sich noch einmal umzuziehen.
»Ich hätte dir etwas anbieten
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