Alicia II
das Spielzeug zu einem festen Bestandteil eines Regals geworden, und ich konnte es ansehen oder das je nach Lust und Laune bleiben lassen. Und es war als Werkzeug wie als Waffe nützlich.
Wenn meine Klaustrophobie beziehungsweise meine Angst vor der Klaustrophobie in mir nicht das Bedürfnis nach einem leeren Strand wie in Atlantica Spa erzeugt hätte, dann wäre ich Alicia nie begegnet. Aber das ist frohen Herzens vergossene Milch, ein Faden, der das ganze Gewebe des Schicksals rechtfertigt. In meinen früheren Kreisen war von Kindern so gut wie nie etwas zu sehen oder zu hören gewesen, und so kamen sie mir fremd, ja, abenteuerlich vor. Ich war keinem Kind mehr in die Nähe gekommen, seit man mich andauernd gezwungen hatte, auf meine kleine Schwester aufzupassen. Sie wuchs zu einer so auftrumpfenden Tyrannin heran, daß ich den Erinnerungen, die ich an sie aus meiner Kinderzeit habe, einfach nicht traue. Alicia sah ich an meinem ersten Tag in Spa. Ich hatte mich, erschöpft vom Sonnenschein, zusammengeschrumpft von einem kurzen Morgenspaziergang, auf einem sackenden Faltstuhl auf einer sackenden Veranda niedergelassen und beobachtete sie von diesem günstigen Aussichtspunkt aus. Doch ich verspürte nur flüchtige Neugier, ähnlich wie die der Leute, die den hiesigen Zoo besuchten. Da sahen sie mit aufgerissenen Augen und Mündern durch Gitterstäbe, und die Gegenstände ihrer hingerissenen Bewunderung waren Hologramme afrikanischer Tiere, von denen viele bereits ausgestorben waren. Diese Leute waren im Gegensatz zu mir nie in einem richtigen Zoo gewesen. Die hohl wirkenden Geschöpfe in den Käfigen erweckten in ihnen keine Assoziationen zu Gefühlen oder Gedanken, zu Ängsten oder Gerüchen. (In einem Museum erkennen wir ein Gemälde erst dann richtig, wenn wir etwas von dem Schmerz oder der Freude in den Pinselstrichen nachempfinden, wenn uns ein schwieriges Konzept klar wird – aber das ist eine andere Art von Zoo.) Ich saß niedrig auf meinem wackeligen Stuhl und studierte das Verhalten des am Strand spielenden Kindes.
Noch unsicher mit den Fäden meines neuen Körpers verbunden, war ich beeindruckt von ihren ungezwungenen Bewegungen und beneidete sie um ihr glückliches Behagen.
Ich kommentierte für mich selbst die Anmut ihrer Gesten, ich hielt den Atem an, als sie in plötzlicher Tollkühnheit einen planschenden Angriff auf das Meer unternahm. Sie sprang und floh und tanzte. Einmal fiel sie und quetschte ein paar Tränen in dem (vergeblichen) Versuch hervor, dem Mann mit dem erstarrten Gesicht, der ihr Vater war, irgendeine Reaktion zu entlocken. Er aber blickte auf etwas anderes. Meine Hand machte eine unwillkürliche Bewegung in ihre Richtung – ein unwirksamer Versuch, ihre Tränen zu trocknen.
Vielleicht verliebte ich mich in Alicia, als ich müßig und erschöpft auf diesem Stühlchen hockte und ihre Bewegungsabläufe beobachtete. Ich sah ein schönes Kind und ließ sie vor meinem geistigen Auge zu der schönen Frau heranwachsen, die sie werden würde (und wurde). Das mag verrückt gewesen sein, aber es waren für einen Rekonvaleszenten typische Phantasien.
Als ich später offiziell um die Erlaubnis bat, ihr Spielgefährte werden zu dürfen, reagierte ihr Vater kaum. Vielleicht sah er, daß ich zu schwach war, um irregeleitete Motive zu haben.
Ohne jede Gefühlsregung übergab er sie mir wie dem Kesselflicker eine Münze.
Sie nannte mich Onkel Vossilyev und nahm mich ins Schlepptau, nur um auf Kosten meiner Unbeholfenheit ihre Anmut zur Schau zu stellen. »Mach das noch mal, Onkel Vi!« rief sie, wenn ich hilflos am Boden saß und darauf wartete, daß
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