Alicia II
klingen zu lassen. Es war nicht gerade ein Befehl. Man sagte mir, ich sei zu wertvoll, als daß ich mir jetzt den Luxus des Todes gestatten dürfe. Man brauche mich, und wenn das Erneuern nicht ganz abgeschafft werden könne, seien sie glücklich, für einen Empfänger wie mich, der in dem neuen Körper fortfahren würde, sich für die Sache einzusetzen, ein Opfer zu bringen. Im Unterbewußtsein mag ich mir so einen Vorwand gewünscht haben, um weiterleben zu dürfen, wer weiß? Jedenfalls war es ein gutes Geschäft – ich würde einen Körper für mich nehmen und später viele sabotieren. Auch dieser Teil der Idee gefiel mir. Also widerrief ich meinen Widerruf des Erneuerungsantrags, nahm meinen Selbstmord zurück. Niemand aus Regierungskreisen erhob Einspruch, denn für sie war ich ebenso wertvoll, und dann starb ich, und man gab mir diesen tadellos funktionierenden jungen Körper. Ich benutzte meine offiziellen Verbindungen dazu, die Unterlagen über den Ausgemusterten einzusehen, dessen Körper ich geerbt hatte. Es war ein sympathischer junger Mann, der sich offenbar mit seinem Schicksal abgefunden hatte. Er hatte einen Vertrag mit einer Versicherung abgeschlossen und verbrachte die letzten anderthalb Jahre seines Lebens als Weltreisender in einer dieser Luxusfähren, die einem alle möglichen Zerstreuungen bieten.«
Ben nahm einen Schluck. Bis zu diesem Augenblick hatte er sein Glas in der Hand gehalten, als habe er es vergessen.
»Nach meiner Rekonvaleszentenzeit nahmen meine alten Rebellenfreunde Kontakt mit mir auf. Sie hätten große Pläne mit mir, sagten sie. Keine Sabotage mehr, das flaute langsam ab. Auf lange Sicht war damit nicht viel ausgerichtet worden.«
Ich grunzte. Ben lächelte.
»Verdammt viel Unannehmlichkeiten, das steht fest, aber wenig mehr. Ich wurde jetzt an die vorderste Front eines in großem Maßstab geplanten Angriffs auf die Gesellschaft geschickt. Anfangs bedeutete das nur, in Komitees zu sitzen und die besonders törichten Pläne, die sie aufstellten, mit etwas Vernunft zu impfen.«
Bens Finger wischten andauernd Feuchtigkeit von der Außenseite seines Glases ab.
»Dann setzte sich ein alter Freund mit mir in Verbindung, einer aus deines Vaters Zeit, Voss. Er ließ sich in einen Sessel plumpsen, als sei es nicht länger als ein Jahrhundert her, daß wir miteinander gesprochen hatten, und erzählte mir, wie wertvoll ich für die Regierung sei. Irgendwie war den amtlichen Stellen meine Untergrundtätigkeit entgangen. Mein Freund wollte über gar nichts anderes mit mir reden als über meine Kenntnisse, meine Fähigkeiten, meine Noten in den Nachprüfungen für meinen Beruf. Der Witz dabei war, daß der Großteil meines neuen Wissens von meiner subversiven medizinischen Arbeit herrührte. Meine Rebellenfreunde waren natürlich entzückt. Sie sahen darin eine Chance, für sie nützliche Informationen zu erlangen. In gewisser Weise war es eine komische Situation.«
»Aber auch eine gefährliche, Ben«, warf ich ein.
»Was bedeutet ein bißchen Gefahr, wenn man sich in seinem dritten gefeiten Leben befindet?«
»Ich hätte gern ein bißchen mehr Gefahr in meinem Leben«, sagte Alicia.
»Aber sie konnten dich bereits in Verdacht haben. Sie konnten dich beobachten …«
»Das hätte keinen großen Unterschied bedeutet. Doch du könntest recht haben. Okay, nimm einmal an, jemand hat es auf dich abgesehen und du weißt es. Was würdest du tun?«
»Ich würde wohl versuchen festzustellen, was den Ärger verursacht hat, und ihn aus der Welt schaffen.«
»Ein tollkühnes Vorgehen, typisch für dich. Voss, dies ist keine zweitklassige Tyrannei, keine offene Diktatur, wo man sicher weiß, welche Personen aufs Korn zu nehmen sind. Wir haben es mit Tausenden von Menschen zu tun, mit Tausenden von Monster-Bürokraten, die nach Macht streben, nach größeren Privilegien angeln, die einstreichen, was sie können, um in mehr unverdientem Luxus zu schwelgen. Es ist nicht so, daß man nur ein einziges Individuum zu entfernen braucht, um die allgemeine Situation zu ändern. Wir werden von winzigkleinen Leuten regiert, deren Hauptehrgeiz es ist, so hoch wie möglich zu steigen, dann erneuert zu werden und weiterzuklettern und sonst noch allerlei zu tun, wovon nur der weiß, der mittendrin steckt. Das sind Liliputaner, die uns andere, die Massen mit Millionen von winzigkleinen Stricken an Millionen von winzigkleinen Pflöcken niederhalten. Sie können sich in unserem Haar verstecken, uns am Bart
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