Aljoscha der Idiot
unmittelbar: Dies will, nein, muß ich in Ruhe ganz lesen. Und dann vermutlich nochmal …“
Richtig, dies ist eins der seltenen Bücher zum Mehrfachlesen, weil man immer wieder Neues entdeckt.
Wer auch immer dies auf sich nimmt – ich schwöre, der bekommt einen glücklichen Ausdruck im Gesicht …
Vito von Eichborn
1
Das Unheimliche draußen vor dem Fenster starrt wie ein Nachtmahr in das Zimmer, in dem ein junger Mann apathisch daliegt, dunkle Schatten unter den Augen, dunkle Träume hinter den Augen. Man könnte ihn für einen Dandy halten, hingegossen auf sein Lager, entkräftet von genossenen Exzessen, jedoch allen Lebenslagen überlegen und geneigt, sie allesamt wie ein Gemälde zu betrachten. Aber dieser erstgeborene Sohn – eigentlich zweitgeboren, denn der Erstgeborene war tot geboren – ist kein Dandy. Sein Name ist Aljoscha Tuschkin. Er kam zur Welt im Herzen Rußlands am Ende einer Frühlingsnacht. Im schweren Kopf herum geht ihm die alte russische Weise vom Tölpel, der sieben Tölpel übertölpelt. Er wühlt mit einer Hand im schwarzen Haar, als wäre Katzenjammer nah.
Was wie Überdruß erscheint, wie stilisierter Weltschmerz, ist in Wahrheit nur die Wirkung der sonderbaren Schwüle dieser Frühlingsnacht, dieser aus den Weißen Nächten vorgezogenen Nacht, in deren Schlepptau sich Aljoscha, einer tiefen Mattigkeit anheimgefallen, fast im Zustand eines Somnambulen, durch die verstreichenden Minuten ziehen läßt. Nacheinander hat er Georg Friedrich Hegel und ein Bündel Briefe aus dem Bett geworfen, um dann allerlei erhitztes Zeug in seinen Geist zu treiben, sich selber komplett auf die Nerven zu gehen und sinnlose Beschwörungsformeln zu flüstern. Verpfuschte Litanei, von der Nacht verschluckt.
Aljoschas Blick fällt auf ein mit Nadeln an der Wand befestigtes Photo von Leda. Wie seltsam, denkt er. Wie seltsam, daß ein so ungewöhnlicher Name für mich so bedeutsam ist. Wie seltsam, daß dieser Name mich begleiten wird, bis ich sterbe. Vor dem Fenster rauschen die Blätter einer Birke. Draußen lauert etwas wie zum Sprung bereit. Es ist die Nacht des 28. April.
Vor zwei Tagen war Leda von einer Reise zurückgekommen, und Aljoscha hatte sich wie ein hungriger Wolf auf sie gestürzt. War Leda fort, war auch das Leben fort. Aber Stigmata sind trügerisch, und die Schatten unter Aljoschas Augen sind nicht die Folge zweier ausschweifender Nächte mit Leda. Aljoscha war mit Schatten unter den Augen auf die Welt gekommen – so wie andere Menschen mit einem Bocksfuß geboren werden oder mit zwei Hörnern.
Auf dem Schreibtisch liegt die gelblichbraun gewordene, vom Sarkophag der Alphonsine Plessis genommene Blüte aus Paris. Aljoscha hattesie auf dem Montmartre-Friedhof von einem der Buketts gepflückt, die man der Kameliendame noch immer auf das Grabmal legte. Eine Blume, mit der irgendein schwärmerischer Bewohner der Stadt sich für eine stille Huldigung zu diesem abgelegenen Platz begeben hatte, wo die mit 23 Jahren an der Schwindsucht gestorbene Kurtisane bestattet war, eine solche Blume vom Grab zu nehmen und sie aufzubewahren, schien Aljoscha kaum weniger wert als das Bringen einer Blume. Ob es eine weiße Kamelie gewesen ist? Wie soll man das wissen, wenn nur die Blumenhändler von Paris Kamelien verkaufen? Es war mehr als hundert Jahre her, daß Alphonsine, die Attraktion der Pariser Salons, Maskenbälle und Theater, kurz vor ihrem Tod gesagt hatte: „Niemand hat meine Liebe je erwidert. Das ist das eigentlich Grausige in meinem Leben.“
Aljoscha starrt in den Raum, der sich auftut zwischen Ledas Photo und der Blüte: er starrt in einen Abgrund. Etwas ist aufs Herz gefallen, wie ein ausgerutschter Rabe, der jetzt betreten schweigt, als reglose lastende Schwärze. Aljoscha denkt an Schlaf, aber der Schlaf denkt nicht im Traum an ihn. Es wäre jetzt die rechte Zeit für einen Bourbon auf der mondbeschienenen Veranda. Vorausgesetzt, man hätte eine. Zeit, zehntausenden Zikaden zuzuhören. Es wäre Zeit, in diese Zeit ein wenig Sinn zu zwingen. Aljoscha liegt in Lethargie auf seinem Laken, und das Tropfen der Sekunden verklebt ihn wie Melasse oder Honig. Dann auf einmal scheint der Grund seiner Malaise weit fort.
Leda wird schon schlafen jetzt. Ganz gewiß schläft sie. Das Haus von Ledas Eltern lag in der Nähe vom Elbina-Fluß, und in manchen Nächten, wenn es in den Straßen still geworden war, hörte man in Ledas Zimmer das Nebelhorn der Schiffe, unheimlich und einsam. Wenn es
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