Aljoscha der Idiot
Ministern und Geschäftemachern: wer noch mit ihr wandert, weiß um die Tiefe ihrer Trauer. Einst, vor langer Zeit, hat sie die Mächtigen erzogen, sie vor das Abbild eines Bettgestells geführt, und wem sie ihre Lust nicht gab, der konnte sich sein Sein nur noch erzweifeln. Sie hatte Legionen in den Armen, und jedem einzelnen versuchte sie zu zeigen, was heilig und was Humbug ist, was lebenswert und was Lappalie, was Plunder und was Privileg. Alle kamen, um ihr zuzuhören, jedem gab sie eine innere Stimme.
Jetzt ist sie die Traumbraut der Verlorenen. Wer ihr nahe ist, weiß sich in weiter Ferne. Manchmal spricht sie leise vor sich hin wie eine Wahnsinnige mit verlassenen grauen Augen, sie friert immerzu wie eine erkältete Venus, ihr Lächeln ist bitter, und doch ist sie von atemberaubender Schönheit, sie ist wie die eisige Stille eines Gebirgssees. In der Frühe geht sie abstrahieren, öffnet das Fenster der Monade, grüßt den Außenposten GOTT mit eudämonischem Lächeln und kocht sich dann auf dem Realgrund eine kleine Stärkung aus Substanz und Attributen. Dann jagt sie falsche Dualismen wie Kätzchen vor die Tür, legt zuhandenes Zeug in Zeitlichkeit, führt den wilden Zufall an der Leine durch das Reich der bestehenden Kausalgesetze und flüstert dabei Dinge wie: „Kleine abweichende Handlungen tun not, ganz besonders in der Morgenröte.“ Oft geht sie zum Fluß der Dinge, um zu sehen, wie alles fortgetragen wird, dann fängt sie an zu weinen – ach, ihr Schluchzen, wenn sie glaubt, daß niemand sie hört!
Ihr Herz ist das einer Verbannten, doch sie selbst hat nie ein Herz verbannt. Sie hat keine Antworten, dafür schenkt sie Fragen. Jedes ihrer Worte verändert die Perspektive, aber keines ihrer Worte läßt sich verifizieren. Luzide Schleier kleiden sie, gewoben aus Disposition oder aus Kaprice, mal Spinnstoff, mal manieristische Masche, aber immer im Stil der Zeit – man wird entweder sehr aufgeregt oder Metaphysiker. Wie könnte sie nicht das Objekt der Begierde überspannter Nachtschwirrer sein? Sie ist, was die Stoiker ein „blondes Gift“ nannten. Schon im ersten Semester seines Dienstes durfte Aljoscha die raffiniert geschnürten Bänder des logischen Korsetts lösen, in das sie ihren aufreizenden Körper hüllt… welch Adel! Welch Anmut! Welch ganzheitliche Bewandtnis! Sie sagt, sie wird auf ihren Thron zurückkehren. Sie wartet auf Verstärkung; sie sagt, eine noch unbekannte Armee wird kommen.
Kurzum, als Student der Philosophie gehörte Aljoscha Tuschkin zu den Hofnarren der Universität. Wo die Philosophie nicht überhaupt alsGebrechen galt, betrachtete man Studentinnen und Studenten dieser Fakultät als irgendwie dubiose Subjekte, die einer völlig brotlosen Kunst nachgingen und darin offenbar eine perverse Befriedigung fanden. Zugleich schien man zu glauben, Hanswurst hat das finale Lachen. Den letzten Kommilitonen, die noch Flugblätter verteilten und um Unterstützung warben für ihren Kampf gegen die allgemeinen Mißstände, sank endgültig der Mut, wenn sie auf ihrem Marsch durch die Hörsäle versehentlich in eine Philosophie-Vorlesung gestürmt waren und sich nun ihres Fehltrittes bewußt wurden; meist trugen sie ihr Anliegen dann dennoch vor, beherzt, doch zunehmend desolat, so als müßten zwei Eskimos mit einer Schar von Pinguinen debattieren. Konfus warfen sie ein paar Flugschriften kreuz und quer und brachten sich dann in Sicherheit, vollkommen überzeugt, daß die verdammten Philosophen sich, sobald die Tür geschlossen war, in ihrer verdammten Pinguinsprache über die grobstofflichen Störenfriede heftig amüsieren würden. Das waren natürlich ganz törichte Sorgen, denn Philosophen waren Menschen wie du und ich, die in Kutschen fuhren, Geld beim Whistspiel verloren und in die Salons gingen, um den letzten Klatsch zu hören. Wenn Aljoscha zugab, Philosophie zu studieren, wurde ihm meist eine gewisse Ehrfurchtsbezeugung zuteil und zugleich der nachdenkliche Blick, mit dem man einen hoffnungslosen Fall betrachtet. Aljoscha machte sich nicht viel daraus. Im Osten gilt der Idiot als heilig.
Wenn Aljoscha sich zu einer Vorlesung in Kunstgeschichte aufmachte, ging er in die Fremde. Die kunstgeschichtliche Fakultät repräsentierte, wie am Habitus ihrer Adepten deutlich abzulesen war, den Hochadel der Universität. Eine gewisse Berechtigung zog diese Spielart des hierarchischen Ordo-Gedankens aus der Tatsache, daß die Kunstgeschichte eine Domäne der Weiblichkeit war.
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