Aljoscha der Idiot
spät genug geworden war. Aber für sie und ihn war es in Ledas Zimmer schon lange nicht mehr spät genug geworden.
Leda schläft; dieser Gedanke verschafft Aljoscha eine gewisse Handlungsfreiheit. Er besinnt sich auf ein altes russisches Sprichwort: In Bewegung zerrinnt verwundeter Geist. Vielleicht handelt es sich auch nicht um ein russisches Sprichwort, aber das ist jetzt zweitrangig. Aljoscha erhebt sich, entschlossen, sein granitgewordenes Bewußtsein der Zersetzung auszusetzen. Er schaltet sein Fernsehgerät ein. Keine durchaus revolutionäre Tat, aber wie sagt Majakowski in Zur Frage des Frühlings: „Man muß irgendwelche Maßnahmen ergreifen.“
YOU GOT A TV… I GOT A TV…
WE ALL GOT TV’S… BIG FUCKING DEAL…
Und hier noch einmal die besten Katastrophen dieses Tages. Sender BLAH-1 bringt die ersten Bilder vom Atomreaktor, der spazierenging. In der nächsten Abteilung: Vertreter der internationalen Politbüros schütteln sich die Hände, bis die Arme abzufallen drohen. Äußern sich zur Lage. Keiner kennt die Lage, aber wichtig ist, daß es Äußerungen dazu gibt. Nächste Abteilung: Ministerschwatz. Wir werden uns formal diesen Anträgen anschließen, sofern sie von den Sonderkommissionen der Gremien gebilligt sind, und auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse wird es bezüglich der tragenden Kompetenzen zu keinem Verfahrensstreit kommen. Da steckt todsicher ein Code drin. Aljoscha stellt den Ton ab und liest dem korpulenten Staatsmann von den Lippen. Der Mann sagt Rinderbratenwurstpastetespeckundbratkartoffeln, Knorpelbücklingsülze.
Manchen Staatsmann gibt es gar nicht wirklich. Es sind ferngesteuerte Attrappen, die als Lumpen auftreten, um die Massen zu beruhigen. Sobald der Lump auf dem Bildschirm erscheint, sagt sich der Gebeutelte: „Ich bin zwar der Gebeutelte, aber ich bin immerhin kein Lump.“ So hat auch der Gebeutelte etwas, worüber er sich freuen kann. Nächste Abteilung: Wirtschaftswachstum unterschreitet Plansoll. Nächste Abteilung: Tanz der Wetterfee, die vor Munterkeit ganz aus dem Häuschen ist, weil es morgen wieder Tag wird.
NOW WHEN I LOOK AT MY TV…
THESE ARE THE WORDS I SAY:
?$*!?$*!?$*!
Aljoscha wechselt das Programm und holt den Ton zurück; hier beginnt soeben ein Schwarzweißfilm aus dem Jahre 1942. Zu romantischer Streichermusik mit drohendem Beiklang erscheinen die Worte: Laß keinen sagen, daß du schuldig bist, wenn das, was schön war, jetzt verdorben ist.
Aljoscha löscht das Licht.
IT’S BEEN SO LONG
Es ist die Geschichte einer Frau mit einem gefährlichen Geheimnis. Sie stammt aus Serbien und sie lebt in New York. Sie ist eine Fremde, sie gehörte noch keinem. Sie liebt die Dunkelheit und sie scheint Schatten um sich zu versammeln. Manchmal bilden sich in ihrer Nähe Schattenlinien, die wie Gitterstäbe aussehen und andeuten, daß sie in einem unsichtbaren Käfig lebt. Ihre Einsamkeit ist freiwillig. Denn sie glaubt, mit einem Fluch belegt zu sein. Wehe dem, der ihr Tabu bricht. Ihr Kuß bringt unheiligen Schrecken. Sie weiß, daß sie nicht lieben darf. Sie weiß nicht, daß nur Liebe sie erlöst. Und wenn sie einmal liebt, istsie anders als die anderen, unvorstellbar anders… sie ist überzeugt, von einem dunklen Geschlecht abzustammen, dessen Frauen in alter Zeit durch teuflische Kulte die Anlage entwickelt haben, sich in Raubkatzen zu verwandeln, sobald heftige Leidenschaft sie erfaßt – grotesker Aberglaube, befindet der Mann, der sich in Irena Dubrovna verliebt.
Aber die Aura dieser seltsamen Schönheit setzt ihm zu: er spürt die sinnliche Wärme und Weichheit eines anschmiegsamen Kätzchens, doch er glaubt nicht an das Ungeheuerliche in ihr. Als er sich dann, verstört von den Ängsten und Nöten dieser Frau, die glaubt, daß etwas einen Zwang auf uns ausübt, dem wir zum Opfer fallen müssen, einer nicht so komplizierten Freundin zuwendet, ist er blind für die Qual des ruhelosen Raubtiers. Abgewiesen, für verrückt erklärt und in ihre Einsamkeit zurückgestoßen, erfährt Irena, wie es wirklich zum Exzeß einer ihrer Leidenschaften kommt: Eifersucht.
Das graue, enggeschnittene Kostüm. Die hauchdünnen Nahtstrümpfe. Hohe Absätze auf dem nächtlichen Asphalt. Aber dann – jemand löscht das Licht, und dann – ist nur noch das Fauchen am Rande des Schwimmbeckens zu hören, hallend durch den Raum, durch die Zeit, Echo des fatalen Fluchs, Generationen und Generationen und die unentzifferbare Wahrheit des Schauerlichen, alles
Weitere Kostenlose Bücher