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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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dunklen Punkt. Sieben Nadeln steckten in einer Wachspuppe. Ein drittes Auge schwebte durch den Korridor. Es überwachte den linearen Verlauf einer kausalen Kettenreaktion. Dominosteine, hochkant aufgestellt zu einer langen Kolonne: sobald der erste Stein kippt, besteht auch für den letzten Stein schon keine andere Möglichkeit mehr, als ebenfalls zu kippen. Die Art von Kausalität jedoch, die Aljoscha gerade heimsuchte, hatte jemand mit einem ziemlich verdächtigen Besenstiel umgerührt.
    Aljoscha wußte, daß er der Frau folgen mußte. Er wußte, eine andere Möglichkeit hat nie bestanden. SIE war erschienen. Also mußte er IHR folgen.
    I CAN STARE FOR A THOUSAND YEARS
    Aljoscha betrat den Hörsaal und sah das Haar der Frau in der Unterwelt des Auditoriums leuchten. Er hatte dieses Haar schon in der letzten Nacht gesehen. Alles beginnt und alles endet zur richtigen Zeit am richtigen Ort, sagte das Mädchen Miranda beim Picknick am Valentinstag. Zwei Treppen teilten das Auditorium, dessen Sitzreihen wie bei einem Amphitheater zur Bühne hin abfielen. SIE hatte einen Platz im rechten Saaldrittel gewählt, weit unten.
    Als Aljoscha die Treppe hinabstieg, fühlte er sich wie eine Marionette, die panisch an den eigenen Fäden zieht; sein Gang erschien ihm ruckartig und steif. Auf halbem Weg zu IHR überkam ihn Schauder vor der Realität: sein Abstieg hatte plötzlich etwas gefährlich Definitives. Er erreichte die Unterwelt mit dem Gefühl, etwas definitiv Gefährlicheszu tun. Er sah jetzt, daß SIE die graue Kostümjacke ausgezogen hatte. SIE trug eine schlichte weiße Bluse. SIE saß betont aufrecht, und IHRE Haltung schien
    IT’S BEEN SO LONG
    fast so etwas wie Erwartung auszusprechen… aber hatte SIE ihn überhaupt wahrgenommen, vor einer Minute, als SIE an ihm vorbeigegangen war? Was tat er hier? Zurück, bevor die Welt von Farbe auf Schwarzweiß umschaltete!
    Zu spät. Aljoscha, der jetzt kurz zögerte, war in IHRER Nähe angekommen; mit der Geschwindigkeit einer Wolke, die am Mond vorbeizieht, wandte SIE sich ihm zu. Für den zehnten Teil vom zehnten Teil einer Sekunde meinte Aljoscha, in diese Augen nicht zum ersten Mal zu schauen. Wissendes lag in IHREM Blick, und Seltenes; es war, als durchschaute dieser Blick den Zufall, ja, es war, als würde SIE sich lediglich eines Kennzeichens vergewissern, um noch im selben Sekundenbruchteil
    JUST BE STILL WITH ME
    YOU WOULDN’T BELIEVE WHAT I’VE BEEN THROUGH
    vollkommene Geheimhaltung zu verhängen.
    In der Welt, an die sich Aljoscha in diesem Augenblick nur bruchstückhaft erinnerte, wäre es wenig schicklich gewesen, sich direkt neben SIE zu setzen. In dem Zustand, in dem Aljoscha sich in diesem Augenblick befand, schien überhaupt keine Handlung sinnvoller als eine andere. Jedenfalls tat er instinktiv noch einen Schritt, war somit eine Reihe tiefer angelangt, schon fast zu ebener Erde, und landete auf einem Platz fast unmittelbar vor IHR. Damit war für die nächste Stunde besiegelt, daß kaum einen Meter entfernt IHR Atem ging, IHR Blut pulsierte und die feinsten Vibrationen IHREN roten Mund durchzuckten. Heiliger Boris und Gleb. Und da sie von jetzt an in dieselbe Richtung blickten, war SIE unwiderruflich außer Sicht, er dagegen saß auf dem Präsentierteller. Verdammt. Er war in einen Hinterhalt geraten.
    Auf dem Boden der Tatsachen betrat nunmehr, exakt um 10 Uhr 15, Martin Warnkin, Professor der Kunstgeschichte, die kleine Bühne mit dem Rednerpult. Er ordnete sein Manuskript und gab das Zeichen; jemand löschte das Licht, und ein Projektor warf ein Rembrandt-Bild an die weißgetünchte Frontwand. Professor Warnkin fesselte die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer an das Gemälde, das Die Lobpreisung Simeons hieß, und eine Woge der ozeanischen Zeit überflutete die Bedeutung des Augenblicks.
    Aber jede Welle fließt zurück, und als Aljoscha aus dem kurzen Moment völliger Geistesabwesenheit wieder aufgetaucht war zum heiklen Stand der Dinge, saß er auf seinem verrückten abgelegenen Platz und suchte den verrückten abgelegenen Weg, auf dem er hergekommen war. Oder auf dem dies alles hergekommen war. Daß man durch einen Film zuweilen aus der Realität in eine Gegenwelt rutschte, das gab es wohl. Aber seit wann rutschte eine Gegenwelt durch einen Film in die Realität? Oder war gerade die Realität am Rutschen? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Realität? Soll ich Sie nach Hause bringen? Kann ich Sie mal unter vier Augen sprechen? Kann ich mich mal

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