Aljoscha der Idiot
saß hinter ihm wie ein Unschuldsengel, und er saß vor IHR wie jemand, der sich fragt, ob hinter ihm ein Unschuldsengel sitzt. Zuletzt wußte er kaum noch, wer oder was da hinter ihm saß. Er vermutete, es war ein Wesen, vor dem die Federn der Poeten unbeherrscht zu klecksen anfangen.
Die Studenten pochten Beifall für Professor Warnkin auf die Pulte. Äußerst langsam packte Aljoscha seine Papiere in die Tasche. Als er schließlich aufstand und einen Blick zurück riskierte, war SIE bereits verschwunden. Aljoscha fragte sich, ob man ihn, als erstgeborenen Sohn, mit sieben Silberlingen oder mit zwei Turteltauben ausgelöst hätte.
2
Eines Morgens auf dem Marktplatz, inmitten von hageren Gestalten in langen Umhängen, finster dreinblickenden Subjekten, boshaft amüsierten Dirnen, verkommenen Predigern und grunzenden Schweinen, sah Aljoscha die Ausgestoßene. Er drängte sich durch die Menge, die sich um die Unglückliche versammelt hatte. Die Frau wand sich auf der Erde, zerriß ihre Kleider und stieß unverständliche Laute aus. Keiner der Umstehenden zeigte einen Hauch von Mitleid oder machte Anstalten, der Unseligen zu helfen, die gepeinigt und bloßgestellt das Schauspiel ihrer Schmach bot. Auf den Gesichtern ringsum sah Aljoscha nur blanken Hohn, er sah Kerle mit lüsternem Gesichtsausdruck, und er sah einen, der, bevor er sich zum Gehen wandte, aus seinem Rachen einen widerlichen Rotz produzierte, den er mit äußerster Genugtuung auf die Frau spie, die nunmehr erschöpft, ja offenbar ohnmächtig dalag. Die Menge zerstreute sich schweigend, und dieses Schweigen wirkte um so verwirrender auf Aljoscha, als es auf ihn gemünzt schien. Lange Zeit stand er, betäubt von der abscheulichen Szene, ohne sich von der Stelle zu rühren; dann erst kam ihm zu Bewußtsein, daß es an ihm war, der Gefallenen aufzuhelfen.
Er hob den schlanken Körper aus dem Schmutz, trug die Frau, die leicht wie eine Feder war, ein paar Schritte vom Ort ihrer Demütigung fort und bemerkte dann, daß zwei Galgenvögel sein Tun beobachteten. Sie standen vor der Tür eines Gebäudes, das, dem Schilde nach, ein Haus für geistige Nahrung war.
„Meine Herren“, rief Aljoscha, „was hat dieses Gebaren zu bedeuten?“
„
Was
will er?“ fragte der eine.
„Er fragt nach unserem Gebaren“, erwiderte der andere.
„Hab keins dabei“, murmelte der erste.
„Sagt mir, wohin dieses arme Geschöpf gehört!“ rief Aljoscha.
„Hier bist du schon ganz richtig, Schwachkopf!“ antwortete der eine.
„Was willst du dich mit ihr abgeben?“ fragte der andere. „Das bringt nur Unglück. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf!“
„Höre nicht auf sie.“ Der Kopf, von dem die Rede war, hatte sich bewegt. Aljoscha sah das von Strähnen schlammverschmierten Blondhaars überzogene Antlitz der Maid, die er in den Armen trug, war in diesem Augenblick als ihr Diener rekrutiert und beschloß, daß er sie über die Schwelle tragen würde. Nur die beiden Strolche machten ihm Sorgen.
„Wer sind die beiden?“ flüsterte er. „Kennst du sie?“
„Das sind zwei Zulassungsbeschränker.“
„Für wen arbeiten die?“
„Sei unbesorgt. Sie werden uns nichts tun. Manchen versperren sie den Weg, uns nicht.“
„Wer ist in dem Haus?“ fragte Aljoscha.
„Es wird immer Menschen geben, die andere Menschen vor Fehltritten bewahren wollen“, sagte sie.
„Hohoo!“ gröhlte einer der Wächter. “Komm schon her mit deinem Schatz! Kein Hahn kräht danach!“
„Wirst bald genug haben von ihr!“ rief der andere.
„Sie lügt dir frech die Hucke voll, die Metze!“ rief der erste.
Und zusammen mit der Erniedrigten und Beleidigten, die sich Liebe zur Weisheit nennt, trat Aljoscha ein ins Freudenhaus der Fragen, wo das Erkennbare außerordentliche Einblicke gibt, wo die Séparées das Beisein im Sosein des Seienden versprechen und jedes charmante Phänomen am Ende doch nur wieder einen Anfänger entläßt.
Die Philosophie ist eine Königin, und die Königin ist auf Entzug. Der Stoff, den sie braucht, heißt Welt und ist kaum noch zu haben, zumindest nicht in reiner Form. Oft schießt sie sich verschnittenes Zeug, deliriert dann süße Idealismen oder wird sehr sinnlich.
Das Abendland wird es bereuen, sie entthront, geschändet und entehrt zu haben. Mißachtet wie Kassandra und wie eine Sklavin auf den Weltmärkten verhökert, zu Schandarbeit und Hurendienst gezwungen mit Krämerseelen und Banausen, schließlich in Vergessenheit geratenbei raffgierigen
Weitere Kostenlose Bücher