Aljoscha der Idiot
hoch. Er versuchte, mit IHREN Augen zu sehen. Wenn SIE also hier auch einstieg in die Metro – würde SIE dann auf dem Bahnsteig warten? Wohl eher in der kleinen Halle, in der er sich jetzt befand. Hier wäre SIE geschützt vor schneidend kalter Morgenluft. Natürlich mußte SIE beobachten können, welche Metro-Linie gerade einfuhr. Aljoscha nahm den erforderlichen Blickwinkel ein. Und hatte gefunden, was er suchte: eine Schreibfläche im primären Sehfeld zwischen Nahpunkt und Fernpunkt.
Aus den Tiefen seiner Jackentasche förderte er den schwarzen Stift zutage, mit dem er einen Vers von Shelley auf die krankgelben Kacheln der Bahnhofshalle schrieb.
Rarely, rarely, comest thou, Spirit of Delight
Selten nur erscheinst du mir, Geist meines Glücks.
Hilfssheriff James Osterberg pustete in seine Kanone und sagte: es mußte getan werden, also tat ich es. Iggy Pop hatte an diesem Abend „Shades“ gesungen.
20
Aljoscha saß in seinem Zimmer, das er der Einfachheit halber „Bredouille“ nannte, tat sich drei Kandinskys in den Tee und rührte zerstreut in der Tasse herum.
SIE würde nie erfahren, daß er die Worte eines ertrunkenen englischen Poeten an die Wand geschrieben hatte, und SIE würde niemals wissen, daß der Satz für SIE am Wegrand stand. Seine Tat, sie würde, wie schon Shelley selbst, in einem Meer versinken. Jedoch blieb es seine Tat. War sie auch sinn- und nutzlos, so war sie doch getan. War sie auch inkognito und mit Narrenhand vollzogen: sie war nicht bedeutungslos. Bedeutung Nummer 1: das war keine Kurzschlußhandlung, Gentlemen, das war ein akribisch geplanter Coup. Bedeutung Nummer 2: sein eigenes Gesetzbuch verlieh der Tat nicht ganz den Stellenwert von 23 Messerstichen durch die Toga eines Cäsar. Nicht ganz. Wie ganz bei Trost konnte er noch sein? Er war nicht mehr semper idem, das stand fest. Nicht mehr stets er selbst.
Er selbst. Wer sollte das denn sein? Etwa ein Cäsarenmörder? Ein Cäsarenmörder, der den Cäsar schon entseelt auffindet? Ein seinerseits verwundeter Cäsarenmörder? Einer von denen jedenfalls, die nicht durch die Kleider bluten. Einer von denen, die Wunden wie Federn auf ihrem Körper landen lassen und dann in petto behalten. Ich mußte mir mit einer Anstrengung vor Augen halten, wie unglücklich wir waren, Cäsar. In deiner Nähe fühlte ich es nie. Ich mußte über einen Schatten springen, der 1000 Nächte lang ist. Aber wenn du fort warst, Cäsar, spürte ich’s wie Schmerz in mir. Weissager und Seher stehen in der Vorhalle, mein Cäsar, und sie verkünden: das, was seine Zeit hat, ist nicht, was immer seine Zeit hat.
Die Zeit der passiven Rebellion war um. Aus Aljoschas zarter Neigung, sich vom Leben wieder überraschen zu lassen, war ein Guerillakampf geworden. Er versuchte, die Überraschung selbst zu überraschen und in ihren Verstecken aufzuspüren. Er versuchte, die Versuchung zu versuchen. Er hatte in Dobropol mit dem Colt des Hilfssheriffs den Teufel an die Wand geschossen, und wenn er daran dachte, ertappte er sich bei dem Wunsch, unverzüglich Munition nachzuladen.
Hüte dich vor den Ideen der Maria Magdalena. Wie ein Einfaltspinsel hatte er versucht, mit dem Bild die Macht des Abgebildeten zu bannen. Um eine ewige Erinnerung aller Zukunft zu berauben. Das hatte er sich ausgemalt. Und dann hatte sich das Gemälde den Maler erschaffen, den es verlangte. Das Abbild sprach zu seinem Schöpfer: Ich habe eine bessere Idee. Du wirst Ikonenmaler sein. Denn in der russischen Ikone hat das Göttliche reale Gegenwart in seinem Abbild. Und weil er 50 Nächte lang unter dem Konzentrationsmond „Geduld, Schönste…“ geflüstert hatte, war das Portrait jetzt ein Schlupfloch, durch das IHRE Präsenz eindrang in sein Zimmer und sich wie ein Succubus auf ihn legte und… Grundgütiger. Übrigens beachtete die Portraitierte den Betrachter nicht. Das hatte er nicht gewagt. Er hatte es vermieden, IHREN Blick für alle Zeit auf ihn zu richten. Über Für alle Zeit war er nicht Herr.
Eben noch hätte man mit 10 Planierraupen über seinen einzigen Plan rollen können, ohne ihn zu beschädigen: von seinem Leben mit Leda leben zu können. Aber Eben noch war unwiederbringlich für alle Zeit. Und jetzt fühlte er das Fieber, das Besessene befällt, in denen irgend eine Leidenschaft einfach übermächtig wird, eine Leidenschaft, die sie als dämonisch süße Qual gegen alles verteidigen, was Heilung von ihr verspricht. Die Lust an der perfekten Krankheit, Liebeskrankheit,
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