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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Mary, und damit hatte es dem Weh Aljoschas eins voraus: es konnte auf einen Namen bluten. Aljoscha sah aus dem Fenster und hatte keinen Namen. Er hatte, wie jedes Mal, wenn SIE gegangen war, Angst, SIE nie mehr wiederzusehen. Er hatte, wie jedes Mal, wenn SIE gegangen war, ein Ich, das nur noch aus Höllenschmerz bestand, weil das, was SIE ihm hinterließ, mit Eisenzangen sein Geständnis forderte. Er hatte, wie jedes Mal, wenn SIE gegangen war, leere Augenhöhlen, die sich erst nach und nach wieder mit Augapfel und Sehkraft füllten.
    Am Abend des folgenden Tages kam Hilfssheriff James Osterberg über die Eselsbrücke in die Stadt geritten. Der Mann, den sie Iggy Pop nannten, dutzendmal geteert und gefedert, der Mann, der wußte, daß man alle Ausgänge kennen muß, bevor man durch den Eingang geht. Lang hatte er Blaßgesichtern das Feld überlassen; jetzt war er zurückgekehrt, um erneut seinen existentialistischen Halsbrecher-Report über die Bretter gehen zu lassen und die Anatomie zu schinden wie kein zweiter, den sehnigen glänzenden Gauklerkörper – man konnte sagen, dieser Körper hatte Charakterstärke – versehen mit einer rituellen Zeichnung: Narben all der Wunden, die der Mann sich zugefügt hatte in Zeiten, als die Frage „Was ist das Problem, James?“ einen konvulsivischen Anfall zur Antwort bekam, begleitet vom Metallgewitter der drei bösen Stooges, weil das Problem war, daß man für das Leben ein zweites Leben als ständigen Kurort gebraucht hätte. Well, Leute. Intensität fängt irgendwann zu brennen an. Allen, die es wissen wollten, erklärte der Mann den Grund für seinen langen Rückzug: er hatte seinen Selbstrespekt verloren. Er hatte eine völlige Neuordnung seines Lebens vorgenommen. Er hatte die Selbstauflösung angehalten und im eigenen mentalen Irrenhaus die Rolle des Platzanweisers übernommen. Eine kopernikanische Wende. Wennman sich selber ständig in die Quere kommt, hilft ein innerer Amoklauf. Sich nichts mehr vormachen und nichts mehr mitmachen, was man nur durchmacht. Siedende Wahrhaftigkeit aushalten, einem einfachen und starken Sinn zuliebe. „Ich wollte herausfinden“, sagte der Mann, der schon alles gesehen und in der Hölle die Asche zusammengefegt hatte, „ich wollte herausfinden, was ein Liter Milch kostet.“
    Das hatte es in sich. Die Würde in diesem Satz! Das ließ den Spiegel der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Bruch gehen. Das gab Sachschaden. Das warf Scheinwelt und Fassaden in den Orkus. Ein Mantra gegen faulen Zauber und Staffage. Vordringen zum wahren Jakob. Herausfinden, was ein Liter Milch kostet. Ein Kôan war das.
    Und dann sagte der Mann noch etwas. Er sagte: „Es mußte getan werden, also tat ich es.“ Gott selbst hätte es nicht besser ausdrücken können.
    An einem Abend im Dezember konnten Leda und Aljoscha miterleben, was geschieht, wenn Iggy Pop ein paar Bühnenbretter vorfindet, und die Meute, der sie angehörten, wußte, was sie dem Mann schuldig war. Vier Helfershelfer schufen einen Klangwall, auf dem Pop wilde Zeichen machte wie Pierrot auf Glatteis. Er holte das letzte aus sich heraus, und so herausgeholt sah das letzte noch viel besser aus. Der Genosse Osterberg, er lebe hoch, hoch, hoch! Von diesem Schauspiel würde man noch Jahre zehren, und Aljoscha fühlte sich nach dem Konzert so erquickt wie ein Spatz nach einem Sandbad.
    Er blieb noch eine Stunde bei Leda, die dann anbot, ihn nach Hause zu bringen. Aljoscha sagte, es sei schon so spät, er führe ebenso gern mit der Metro. Und tat also. Und stieg von einem Bildflügel des Diptychons in den anderen. In Wolchonka stieg er um, und in Dobropol stieg er aus dem Strom.
    Er wartete, bis die wenigen Gestalten, die mit ihm ausgestiegen waren, den Bahnhof verlassen hatten. Nur noch traurige Lichtpunkte in den Häuserfassaden ringsum. Es blieb vieles unsichtbar in dieser Gegend. Aljoscha stieg langsam die Bahnhofstreppe hinab. Bis hierher wandelte er auf IHREN Spuren, aber nun? Er stand in einer Unterführung. Ging SIE jetzt nach links? Nach rechts? Aljoscha wandte sich nach links und machte ein paar Schritte aus dem Tunnel heraus. Er sah einen kleinen Park und eine Kirche, die im Dunkeln an ein Fabrikgebäude mit Schornstein erinnerte. Wahrscheinlich erinnerte sie auch im Hellen an ein Fabrikgebäude mit Schornstein. War man an der Kirche vorbei, gingman in Richtung Minski-Bezirk: dorthin, wo Aljoscha IHR Quartier vermutete.
    Er machte kehrt und stieg die Treppe zu den Gleisen wieder

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