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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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auftut und dich verschluckt. Aber der Mann zog endlich weiter.
    Und damit hatte SIE seine Stimme aus der Nähe vernommen. Beruhigend, daß man Gesagtes nicht an sich bringen kann, um Fernzauber damit zu treiben. Oder kann man? Vielleicht hatte SIE Mittel, um den Klang seiner Worte substantiell zu machen und einzureiben mit einem Gemisch aus Geckospucke, Viperntränen, Belladonna und Pulver aus dem Gürtel der Persephone und… Jessas. Wie sagt Majakowski in Seht, so ward ich ein Hund: „Sicher – die Nerven, gehn mir an die Nieren…“
    Als die Metro in den Bahnhof eingerollt war und Aljoscha einstieg, folgte SIE ihm so spurgetreu, als würde SIE hinter ihm durch eine Schneewehe gehen. Unfaßbar, dachte er. SIE will es so. SIE will es so.
    Er lehnte sich an eine Trennwand. Ob IHR das Gedränge keinen Ausweg ließ, oder ob SIE sich dazu entschloß, jedenfalls blieb SIE ganz nah bei ihm, als hätte er ein Anrecht auf das berauschende Gefühl dieser Nähe, auf den Reiz, der darin lag, daß SIE vor aller Augen eine Art von Zugehörigkeit vorspielte, andererseits aber nur sie beide wußten, was hier vor sich ging. Für diesen exklusiv exhibitionistischen Akt drehte SIE ihm, natürlich, den Rücken zu, und trotzdem war es, als würde er durch ein Schlüsselloch schauen, und als würde SIE es wünschen, ihn auf diese Weise zum Voyeur zu machen. Für eine kostbare Minute exquisiter Martern lud SIE seinen Blick ein, in IHR Haar zu tauchen und sich von den Wellenlinien jeder Strähne mitreißen zu lassen; dann,wenn SIE den Kopf ein wenig drehte, die Länge IHRER Wimpern zu studieren, während IHR Parfum ihm die Sinne verwirrte, Dufthauch einer prächtigen Blüte, die sich für einen luxuriösen Exzeß zur Schau stellt. Dann, als sich an einer Trennwand vis-à-vis ein Platz zum Stehen bot, nahm SIE diesen mit einer raschen und geschmeidigen Bewegung ein; es war unmöglich, zumindest für Aljoscha, dabei nicht an den lautlosen, waagrechten Sprung eines todsicheren Panthers zu denken. SIE warf herrisch den Kopf in den Nacken, schien einen scharfen, seltsam befriedigt wirkenden Atemzug zu tun und sah ihn kurz und beunruhigend an. Zum ersten Mal standen sie von Angesicht zu Angesicht.
    Auge in Auge.
    Woher kommen wir? Woher kommen wir zurück ? Welche Sprache, in jedem Gedächtnis längst erloschen, sprachen wir? Welche Dynastie statuierte ein Exempel? Welchen Glauben erklärte sie für rechtens? Welchen Kult verbot sie? Welcher Tyrann ließ uns verfolgen? In welchem Land, in welchem Reich kam ich zu spät? Begehrte diese Frau Erinnerung an jene Stunde, da SIE an einen Pfahl gekettet war, zu Tode gequält von den Schergen des Herrschers? Erinnerung an den letzten schwachen Glanz in IHREN Augen? Erinnerung an seine zorngeballte Faust und seinen Schwur, diesen Glanz wiederzufinden, bevor die Sterne aufhören zu wandern?
    Ein Zucken IHRER Lippen – es lag Getriebensein darin und Grausamkeit. Oft wie nie zuvor fand er IHREN Blick, den Blick, der zwischen ihm und der Vernunft jedes Band zerschnitt. IHRE Haltung war gebieterisch und streng, IHRE ganze Erscheinung erteilte die Lektion, nichts erhoffen zu dürfen, niemals; und gerade darum glich IHR Blick einer Verzweiflungstat: die sehnsüchtige Aufmerksamkeit IHRER Augen wirkte scheu und beinahe flehentlich, als wollte SIE dem Zeichenlehrer sagen: laß mich Rosen tuschen in das Album deiner Not… IHRE Stiefelspitzen zeigten in so grundverschiedene Richtungen, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: SIE war Ballettänzerin oder vom Teufel besessen. Und das silberne Kreuz, das SIE um den Hals trug, war es etwa nicht verdreht, verkehrt und auf den Kopf gestellt? Sehr christlich sah es nicht aus.
    Dobropol. Die Türen standen offen. SIE zögerte die vier, fünf Schritte, die SIE zu gehen hatte, um den Metrowaggon zu verlassen, bis ganz zuletzt hinaus. Aljoscha senkte den Blick. Ehrerbietung. Abschiedsschmerz. Dann hörte er IHREN Schritt verklingen auf dem kalten Bahnsteig.
    Er hatte noch drei Stationen vor sich, und dieser Weg war die Freudlosigkeit selbst: die ersten Minuten jener sieben Tage, die es nun abermals zu warten galt – auf den Blick des Wissens, Wartens, Ahnenlassens. Er setzte die Kopfhörer wieder auf,
    DOWN THE ROAD I LOOK AND THERE RUNS MARY
    und Nick Caves Ballade von den Traurigen Wassern tat ein Übriges – diese müde Stimme, die schon weiß, daß sie den Kampf gegen das Verbotene verlieren wird.
    HAIR OF GOLD AND LIPS LIKE CHERRY
    Aber Caves Herzeleid galt einer

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