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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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eigentlich ein Greuel. Nick Cave & The Bad Seeds erschienen als Experten im Zerlegen gewohnter Strukturen, als Schinder des schmeichelnden Wohllauts, als Lästerer des Lieblichen, die mit fachmännisch gesenkten Köpfen einen Rhythmus zur Strafaktion erklärten und alle Melodien mit Stahlbürsten streichelten. Ausgerechnet dieses Stück nun gab sich betörend schön mittäuschend echter Harmonie und erhob sich strahlend, um auch Leda zu gefallen. Der Tod im Leben ist ein Meister der Ironie. Denn aus dem Wohlklang sprangen Würgeengel. Dieses Stück war die Verschwörung gegen das, was es zu sein schien. Dieses Lied wollte nicht nur herausfinden, was ein Liter Milch kostet. Es kippte Tod und Auferstehung in die Milchtüte.
    In den Minuten seiner Erleuchtung, als er mit einer Riesenschere vor das Universum und Valerias Haar getreten war, hatte er durch die toten Straßen seiner dem Untergang geweihten Stadt einen Schwur gejagt: eines Tages sollte alles, was noch seine Sache war, auch Ledas Sache sein. Kein anderes Gebet mehr als an sie. Er würde aus dem Weg räumen, was diesem Entschluß entgegenstand, er würde jeden Mißton tilgen aus ihrer Symphonie. Er wollte Zigaretten in die Luft werfen, sie mit den Lippen auffangen und Leda eines Tages sagen hören: „40 Jahre mit diesem Mann, und keiner seiner Tricks hat geklappt.“ Du kannst Girlanden spannen vom Realen zu den Möglichkeiten und zurück, aber die unendliche Weite beginnt mit dem Stück Erdreich unter dir. Keine Entfernung mehr zu laufen: er wollte lieben. Und er würde lieben.
    Und vielleicht war es ihm gelungen. Für wie lange? Für fünf Jahre? Für den zehnten Teil vom zehnten Teil einer Sekunde? Vielleicht zu kurz, vielleicht zu lang; das war das letzte, was er an Präzision aus sich herausholen konnte. Aljoscha überblickte die Bedingungen. Diese Liebe funktionierte, wenn er funktionierte, wenn er nicht zur falschen Zeit einen richtigen Sonnenuntergang bewundern wollte, wenn er nicht die 1000 Dinge sagte, die Leda gar nicht wissen wollte, wenn er nicht zu verschwenderisch mit sich und ihr war, nicht so schrecklich übertrieb, wenn er sich auf A-Dur stimmte, passende Schuhe trug, nie Asche von seinem Haupt auf den Teppich rieseln ließ und trotzdem möglichst einen sinnvollen Haarschnitt hatte.
    Vor etwa zwei Stunden hatte Aljoscha eine LP der Birthday Party neben einen Spiegel gestellt und sich selbst davor, um einen Haarschnitt vorzunehmen. Der Kopf des auf dem Cover abgebildeten Gitarristen Rowland S. Howard diente ihm als Vorbild. Hallo, ich bin Butch, und ich nenne diesen Schnitt Scheitel am Ende. Man trägt ein artiges weißes Hemd dazu. Es ist ein Scheitel, dessen Sachlichkeit zugleich betont und zerfetzt ist, verheert, zerwirbelt, verderbt. Die Wirrnis der Fasson. Der Formschnitt der Zerrüttung. Keine Strähne verschafft eine Ahnung, was zum Teufel all das bedeuten sollte, jeder Wirbel verweigert die Mitarbeit.Der Scheitel des Bösen. Aljoscha hatte aufgehört zu funktionieren. Er hatte aufgehört zu resignieren.
    Bedingungen wachsen Stalagmiten gleich, jeder Liebe wachsen Auftropfsteine, nichts Besonderes. Bis sie einen Käfig bilden. Nichts Besonderes daran. Nur, daß der Käfig der Bedingungen manchmal mysteriöse Wandlungen bewirkt. Metamorphosen. Auf einmal suchen Raubtieraugen hinter Gitterstäben das Bedingungslose.
    Der Zug stampfte ein. Es war die Nacht des 5. Dezember. Pjotr sprang auf den Bahnsteig, stellte seinen Koffer ab, umarmte seinen Bruder brüderlich und ließ den Korken von einer Flasche Krimsekt springen. Sein Abschlußwerk für die Akademie war fertig, die sieben keramischen Köpfe waren vollendet. Professoren würden jetzt ihr Urteil fällen, aber es gab an diesem Werk etwas zu feiern, das keinen Professor etwas anging.
    „Siehst verändert aus“, sagte Pjotr.
    „Kann schon sein“, sagte Aljoscha.
    „Nicht nur dein Haar.“
    „Noch etwas anderes?“
    „Ja.“
    „Mehr in meinem Gesicht?“
    „Genau da.“
    Aljoscha nickte. „Jemand sollte auf mich aufpassen“, sagte er. „Ich dachte da an dich.“
    „Ich will mein Bestes tun“, sagte Pjotr.
    „Bei mir ist das nämlich anders als bei Orpheus“, erklärte Aljoscha. „Mich wird es zerreißen, wenn ich noch weiter wissen will.“
    „Orpheus?“ Pjotr schüttelte mitfühlend den Kopf. „Junge, du steckst wirklich in der Soße.“
    Sie gingen vorbei an zermürbten Nachtgestalten, den vergessenen Bewohnern des Bahnhofs, die sich an Luftschächten die Knochen

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