Alkor - Tagebuch 1989
Warum?
Nartum
Fr 23. Juni 1989
Bild: Einsturzgefahr/RV K-Klinik muß geräumt werden/Melisande sprang in den Tod/Lilo Pulver/Die Tragödie ihrer Tochter
ND: Regierender Bürgermeister von Berlin (West): Europäische Friedensordnung nur mit zwei gleichberechtigten deutschen Staaten
T: Ich bin in der Ostzone, nahe Dresden, habe dort ein Seminar abgehalten oder so was. Danach fahre ich mit einer Frau nach Dresden, in der Schmalspur-Straßenbahn.«Was soll ich bloß machen?»sage ich.«Heute komme ich bestimmt nicht mehr nach Hause.»Sie geht nicht ein auf meine schüchternen Anfragen, mich weiter zu begleiten und mir beim Erwerb von Fahrkarte usw. zu helfen. Dann fahre ich (bei der Gelegenheit) nach Bautzen, wo ich die Bekanntschaft junger Leute mache, mit denen ich sogar das Gefängnis von außen betrachte. Später verlassen auch sie mich, und ich habe größte Schwierigkeiten mit dem Auskunftsbeamten der Reichsbahn. Erst als er sieht, daß ich nur einen winzigen Bleistift bei mir trage und einen kleinen Zettel, wird er zugänglicher.
Studenten waren hier, große, schöne Menschen mit meist edel geformten Gesichtern. Nett. Im Garten saß ich und war von mir wohlgesonnenen Damen umgeben. Andere schaukelten auf der Schaukel und sahen herüber. Sie wissen nicht viel von mir, und ich weiß nichts von ihnen. Wenn es eine klug anfangen würde, würde sie mich möglicherweise rumkriegen. Sie brauchte nur
alle meine Bücher gelesen zu haben. - Wenn ich auf eine zuginge, würde sie lächeln und sich geschmeichelt fühlen aber dann wegfahren, und nichts ist gewesen, nicht einmal ein Kräuseln der Atmosphäre. - Der Dozent, der den Besuch organisiert hatte, spielte Jazz auf dem Klavier. Während ich draußen saß und an die ausgesogene Taube dachte und mir die Schönheit des Lebens betrachtete, erklang drinnen Vergangenheit, die leider nie meine Vergangenheit war. Bei Horaz:
Frage nicht, was morgen sein wird,
zieh Gewinn aus jedem Tage
und verscheuche nicht die süßen
Musen, Knabe, nicht den Tanz,
bis das Alter trüb dich heimsucht,
jetzt versäume nicht den Zirkus
und des nächtlichen Geflüsters
anberaumte Stunde nie!
Zu spät kommt dieser Rat, leider. Die Zeit der süßen Musen fiel mit meinem sonderbaren Aufenthalt in B. zusammen.
Auch unsere liebe Schwiegermutter, der jetzt unser aller Freund die Arme offenhält, war einmal eine schöne Studentin, stolz und etwas schnippisch. Die hübschen Grübchen hat sie immer noch. Der flotte Dozent macht Seminare über die Chronik, aber er nimmt offenbar nur immer T/W und«Gold»durch - ich vermute, weil das seine Zeit ist. Er verbindet, wie man so sagt, das Angenehme mit dem Nützlichen.
Das Jahr 1936 müßte man mit Bewußtsein erlebt haben. Auch’36 hätte ein«Echolot»verdient. Olympiade plus Spanien. Hitler im weißen Jackett. Und der Flüchtlingsmarsch über die Pyrenäen. - Meine«Echolot»-Erläuterungen wurden von den Studenten im ganzen recht freundlich aufgenommen. Einer rechnete nach, daß dieses Opus ja 25 000 Seiten haben müßte! - Da wurde mir schwach, irgend etwas stimmt nicht an der Konstruktion. Die Ebene ist zu eintönig. Ich muß an das Museum von Tucson denken. Auch endlos eintönig ist die Wüste dort, aber im Museum
wurde gezeigt, was alles zu finden ist, wenn man einmal genauer hinguckt. - Aber anders als in Tucson handelt es sich beim«Echolot»ja nicht um Insekten und Spinnen, sondern um Menschen, und Menschenschicksale mag ich nicht«streichen». Mit Rhythmisierung werde ich der Sache beikommen können, mit grotesken Gegenüberstellungen.
Menschenschicksale sind immer interessant. Und was den Umfang angeht: Jeder Zeuge, der gestrichen wird, stirbt zum zweiten Mal. -«Doubletten»gibt es eigentlich kaum. Auch wenn über die gleichen Tatbestände berichtet wird, immer gibt es Facetten, die interessant sind. Plastisch wird’s dadurch. Zum ersten Mal wurde mir klar, daß ich etwas Ungeheuerliches in die Welt setze.
Wir bekamen vom Tischler eine Rechnung über 4500 DM für das neue Dach auf der Veranda und ein Velux-Fenster.
Man müßte noch viel asketischer und zielgerichteter leben. Alles bewußter und sensibler unternehmen. Ich muß dahin noch kommen, es bleibt noch viel zu tun.
Goethe-Briefe.
In der Nacht tippte ich noch ein paar Seiten aus dem Kaulsdorf-Tagebuch. Ein einziges Huhn hat er noch, und dauernd flickt er seinen Zaun, weil nachts Russen in seinen Garten einsteigen und klauen.
Hildegard sagt zu den Bartók-Quartetten:«Es
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