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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ausgeprägter meine Vorliebe für Tagebücher und Autobiographien. Man will vergleichen, wie sie das Leben hinter sich brachten. Hat man’s besser gemacht? Mehr Glück gehabt? O, Hannes, watt’n Hot?
    Klavier gespielt.

Nartum
Mo 26. Juni 1989
    Bild: Die heimlichen Raucher von Bonn [alle mit Foto: Kohl, Rau, Stücklen, Apel, Lambsdorff, Klein, Blüm, Wallmann, Zimmermann]
    ND: Beschluß der 11. Tagung des Zentralrates: XIII. Parlament der FDJ Ende Mai 1990 in Berlin
     
    Oldenburg: Akustische Analyse und anderes.
    Ein Student in der letzten Reihe redete die ganze Zeit laut mit seiner Nachbarin. Ich überlegte, ob ich um Ruhe bitten sollte oder lieber nicht - dachte an meinen schönen Druckposten und hielt das Maul. Vielleicht ist er ja Bettnässer, oder er hat eine schwere Jugend gehabt. - Über 60 Studentinnen schwiegen im übrigen und hörten mir zu. Ob sie was«verstehen», ist eine andere Sache - ich glaube: nein. Am liebsten haben sie es, wenn ich Witze mache, sie bringen extra Kommilitonen aus anderen Semestern mit, damit die sich auch mal amüsieren. Alles was ich unternehme, ist natürlich absolut«unwissenschaftlich». Allerhand Spiele, mit denen man das«Lerngut»unter die Menschheit bringt. -
Kindisch? Nun, was ich ihnen da vorgemacht habe, kam aus der Praxis. Falls sie so was machen, werden die Kinder Spaß haben an der Schule (und sie selbst auch). Und ohne Spaß läuft in der Schule nichts, das müssen sie irgendwann einmal kapieren. Wie herrlich ist es, lachende Kinder zu sehen! Je älter die Menschen werden, desto unguter das Lachen. - Der Jüngling Plappermaul ging übrigens raus, sein Mädchen blieb. Vielleicht wird er mal Pädagogik-Professor. Vielleicht schreibt er ja auch Gedichte. Wenn er sie mir schickt, werde ich ihm eine ordentliche Antwort zuteil werden lassen.
    In Oldenburg im Frauen-Café.
    «Ob Sie mir bitte ein kleines Stück Kuchen bringen?»
    «Was verstehen Sie unter einem ‹kleinen Stück Kuchen›?»
    Die Toiletten waren in diesem Etablissement nicht geteilt, sehr prekär.
    Ich lese in der Biographie von Frau Karall. Sie schildert ihre Kindheit in einer Dorfschule:
    Für uns Stadtkinder war der Besuch einer Dorfschule ein Erlebnis besonderer Art. Die kleine Schule lag an einem Hang. Die einzige Schulklasse und die Lehrerwohnung waren in der ersten Etage. Darunter, im Hochparterre, befanden sich die Ställe für die Ziegen und Hühner des Lehrers. Manches Mal liefen in der Pause Tiere und Schüler auf dem Platz vor der Schule durcheinander.
    Gibt es einen Menschen, der meine Sehnsucht nach diesen Verhältnissen versteht?

Nartum
Di 27. Juni 1989, Siebenschläfer
    Bild: Unwetter über Berlin/1 Toter/Millionenschäden/Brennendes Atom-U-Boot/16. Katastrophe/Ist das Schicksal gegen Gorbatschow?
    ND: Größerer Beitrag in jedem Betrieb zum Nationaleinkommen

     
    6 Uhr. - Von einer Fliege geweckt. Schade!
    Immer noch heiß. Nach dem Frühstück im Garten, am Brunnen, die Beine hochgelegt und gedöst. Als der Bauer mit seinem Trecker am Zaun entlangfuhr, habe ich mich geduckt. - So einen Frühsommer hatten wir noch nie. Leider kann ich ihn wegen des Kreislaufs nicht recht genießen; auch andere, zum Teil widerwärtige Gebrechen machen mir zu schaffen. Aber nichts Lebensbedrohendes, und das tröstet.
    Ich arbeite mit Volldampf am«Echolot». Jeden Tag zehn bis zwölf Seiten, und doch ist noch immer nicht der Boden des Aquariums bedeckt. Der Kaulsdorfer mit seinem komischen Schicksal bewegt mich. Warum schrieb er alles auf? Aus der Mentalität eines Sparkassenbeamten heraus? - Aber dann hätten ja alle Sparkassenbeamten Tagebuch führen müssen. Er hat das Entnervte eines 50jährigen, keinen Witz, keine Schelmerei, nur immer genervt, am Ende, völlig erledigt. Am 27. Juni 1945 schreibt er:
    Heute ernteten wir die Johannisbeeren, rote, weiße und schwarze. Wir entkernten sie, und dann wurde eine wunderbare Marmelade daraus gekocht.
    Frau Hanke hatte durch eine Verwandte gehört, daß ihr Mann in Rückersdorf im Gefangenenlager sei. Darauf machte sie sich heute mit der Frau Kruse und der ganzen Kinderschar auf und marschierte sieben Stunden hin und sieben Stunden zurück nach Rückersdorf. Die Frauen wurden gar nicht in das Lager, in dem sich 35 000 Gefangene befinden sollen, hereingelassen und mußten unverrichteter Dinge wieder umkehren.
    Vor Jahren hielt ich eine Vortragsreihe vor Postbeamten. Lauter ordentliche Leute. Ich bat sie, herauszufinden, wann die Briefkästen gelb, rot, blau

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