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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Die Lichtbilder, die ich ihnen zeigte, mittelalterliche Handschriften mit kunstvollen Initialen, machten keinen Eindruck. Vielleicht hätte ich noch Würzkräuter mitbringen sollen, wie Martin Andersch es immer tut. Aber welche? - Das Problem der Pädagogik ist, daß es zuwenig intelligente Menschen mit Herz gibt.
    Vor einiger Zeit gab ich Zettel aus und ließ Märchentitel aufschreiben. Keiner wußte mehr als zwei Märchen anzugeben, mancher gar keine. Auch«Max und Moritz»wurde genannt. Wie Tom Sawyer auf die Frage nach Aposteln antwortete:«David und Goliath». - Daß Unterrichten auch dem Lehrer Spaß machen muß - sonst hält man es nicht 30 Jahre aus -, das begreifen sie nicht. Jede Stunde, in der nicht gelacht wird, ist eine verlorene Stunde.
    O Gott, die Gespräche in den Lehrerzimmern!
    Horror-Rechnung für Fotokopierer, sechs Monatsmieten für 820 DM.
    Im Autoradio:«Entwarnung für Autofahrer! Auf der A 1 ist kein Hund mehr auf der Fahrbahn!»
    Die Suche nach außerirdischem Leben im Weltall bedeutet, daß wir gern Zeugen hätten für unseren Untergang. - Seine Existenz ließe sich auf mathematischem Wege beweisen. Im Grunde wohl eine einfache Gleichung. Robert hätte gesagt: Das fühlt doch’n Blinder mit’m Krückstock.

    2000: Inzwischen hat man in unserer Galaxie immerhin schon Planeten entdeckt.

Nartum
Di 11. Juli 1989
    Bild: Steffi exklusiv in Bild/Boris+ich
    ND: Brüderliche Grüße an die Mongolische Volksrepublik
     
    Semesterschluß. - Oldenburg: Fibel, Schreiben. - Vorher, um 15 Uhr, besuchte ich eine Schule, eine umfunktionierte Pausenhalle, manegenartig. Lesung und Diskussion. Mir, dem Antialkoholiker, wurde eine Flasche Schnaps und ein Zinnlöffel geschenkt, aus dem man den Schnaps schlürfen soll. Hildegard wird sich freuen.
    Mir selbst zur Belohnung kaufte ich in Oldenburg zum Semesterschluß ein kleines Bild, viel Wald und oben ein Schloß. Nichts besonderes. Braucht viel Licht: 800 DM!
    Ein Herr über Kreuzfahrten:«Wenn man so rausfährt aus Venedig, das ist doch doll irgendwie.»
    Heute sollte man sich laut Kalender erinnern an: Benedikt von Nursia.

Nartum
Mi 12. Juli 1989
    Bild: Tragödie im Reihenhaus/Hirtenhund biß Baby Kopf ab/ Er kam aus dem Tierheim/Eltern schliefen im I Stock /Säugling auf der Couch vergessen
    ND: Nahezu drei Viertel der Wintergerste eingebracht
     
    Kinder kamen, um sich Bonbons zu holen. Hildegard wischte hinterher sämtliche Türdrücker feucht ab, da klebrig. Die neueste Sitte ist es, daß sie uns an der Tür etwas zum Tauschen anbieten. Sie halten also einen Apfel in der Hand und hoffen auf
Schokolade oder Bonbons,«tuschen»wie es auf Platt heißt. Für manche ist das Tauschen nur ein Vorwand, sie sind ganz einfach neugierig: meist halbwüchsige Mädchen zum Beispiel, im sogenannten«Gösselalter», niemals Jungen. - Wer Lust zu tauschen hat, hat Lust zu betrügen, sagt man. Oder, in der Schweiz:«Wer bigärt z’tusche, bigärt z’b’schysse.»- Der Name Roßtäuscher. Man denke, ich hieße so, dann wäre ich als Autor erledigt. Das mir unangenehme Märchen«Hans im Glück».
    Kinder: Wie auf dem Bild«Lasset die Kindlein zu mir kommen»von Fritz von Uhde möchte man in der Diele sitzen und ihnen was erzählen.
    Eine junge Frau kam, sie wollte uns ein Küken zeigen. Ging gar nicht wieder weg, wie süß das Küken ist. Irgendwie sollte dabei herauskommen, was für eine gute Frau sie ist, daß sie uns hier zeigt, wie süß Küken sind. Wie die Glucke wohl nach dem Kleinen gesucht hat! - Fliegende Händler lassen sich nicht mehr sehen. Manchmal Kirchenleute. Kirchenleute kommen meist zu zweit. Kleinbürgerliche Figuren, die es nicht ertragen, wenn man ihnen was erzählt vom lieben Gott.
    Ein Einzelreisender auf Fahrrad, wo es hier nach Steinfeld geht, wollte er wissen. Wir bewirteten ihn. Netter Mensch, dem wir peu à peu beibrachten, was für ein erlauchter Mensch ich bin. Leider klingelte bei ihm nichts. Eine Freundschaft fürs Leben war nicht zu begründen.«Weißt du noch, damals, als ich bei euch reinschneite …?»- An unserm Haus vorüber führt ein Radfahrweg, auf dem kann man von Hamburg nach Bremen fahren. Zeitweilig größere Pulks. Auch Väter mit Söhnen. Fliegende Mädchen und übergewichtige Frauen. Ich gebe mir dann den Anschein. Später mal ein Café hier aufmachen, man braucht die Menschen ja nur abzufangen.
    Am Abend saßen wir draußen und erzählten uns gegenseitig, wie schlau wir es angestellt haben, aufs Land zu gehen.

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