Alkor - Tagebuch 1989
immer wieder sagen. Ich werde ihm den«Sirius»widmen. Dann hat er’s schriftlich. 23 Uhr. Es fällt mir ein, daß ich schon in den«Befragungsbüchern»der Chronik das«Echolot»-Prinzip angewendet habe. 1961 fing ich mit den Ausfragungen an. Bauer Drews in Breddorf. Ich bückte mich über die Erdbeeren, und er stand daneben und guckte mir zu. Das war mir lästig, und da fragte ich ihn eben nach Hitler. Auch die«grünen Hefte»im Unterricht sind eine Vorform des«Echolot». Mein Prinzip:«Vom Kinde aus». Sie zu fragen, was es Neues gibt und deren Geschichten dann umzudrehen. Ich gab ihnen ihre Erlebnisse zurück. So ist es doch auch mit dem«Echolot». Sie erzählen, und ich werfe die Geschichten mit dem Bildwerfer an die Wand. - Gibt es so was wie«demokratische Prosa»?
Goar , Heiliger. Aus vornehmer Familie. Als der Bischof von Trier ihn unfreundlich empfängt, soll er Hut und Mantel an einem Sonnenstrahl aufgehangen haben. Seine Gastfreundschaft durch einen Topf hie und da bezeichnet, läßt ihn in der Gegend zum Patron der Töpfer werden. Als Jahr seines Todes gilt 575.
In St. Goar begab es sich im Sommer 1959, daß Hildegard mich dazu verleitete, am heißen Mittag ein Glas Wein zu trinken, wovon wir beide einen Schwips bekamen. Das war in unserer Brautzeit.
Im TV das Quälen von Stieren in Spanien und aufgehängte Hühner. In einem Dorf werfen sie eine Ziege vom Kirchturm. Talkshow mit Prostituierten, das war auch noch nicht da. («Wieviel Freier hatten Sie in dieser Woche?»wird gefragt.) Die jubelnde Postfrau kam heute nicht. D. h., sie kam doch, aber
sie hinterlegte die Briefe ohne einen Mucks von sich zu geben. Sonst liebt sie es, mich zu fragen, wie’s mir geht. - Sie hat die Briefe immer mit Gummibändern zusammengefaßt. So hat jeder seine Methode. Ich finde Gummibänder auch sehr hübsch, ich habe immer welche vorrätig, doch weiß ich jetzt absolut nicht mehr, was ich mit den Dingern anfangen sollte. Wenn man sie längere Zeit im Schreibtisch liegen hat, zerbröseln sie. - Wie die Dinger wohl hergestellt werden? Ich nehme an, man schneidet Fahrradschläuche in Scheibchen.
Nartum
Fr 7. Juli 1989
Bild: Die Bustragödie/Allah ist groß, rief der Terrorist und riß den Bus in den Abgrund/16 Tote/Kinder und Frauen schrien/ Tank explodiert/Hölle vor Jerusalem
ND: Delegation der DDR unter Leitung von Erich Honecker in Bukarest begrüßt/Abordnung auf Flughafen von Nicolae Ceausescu willkommen geheißen
Heiß, 30 Grad. Hildegard pladdert im Innenhof mit Wasser. Gorbatschow reist in der Welt umher und wirbt für sich und seine Perestroika. Hoffen wir, daß es ihm gelingt, die Russen aus ihrer Dumpfheit herauszureißen. Skepsis ist angebracht.
Die Ungarn scheinen sich jetzt gelöst zu haben aus dem Block. Wie ein großes Schiff, das vom Kai ablegt. Das wird kaum registriert. Die Ungarn 1956! Es ist schon ungeheuerlich, ja grotesk, wie Menschen gerade in den Ländern behandelt werden und wurden, die unter der Devise«Mehr Menschlichkeit»antraten.«Arbeiterparadies», dies komische Wort, das hätte unsere Intellektuellen doch stutzig machen müssen … Und daß es überhaupt noch einen einzigen Menschen gibt, der ein Wort des Verständnisses aufbringt für dieses Schurkenreich. Pervers. China ist ja ein exotisches Land, da mag man sagen: Nun gut, aber zum Beispiel die ČSSR (ein wenig Schadenfreude, die wollten es ja so haben,
1948, geschieht denen recht, daß sie im eigenen Saft schmoren) oder die glorreiche DDR. Dieses zynische Pack! Wieso gibt es bei uns keinen Parodisten unter all den bemühten Kabarettmenschen, der den Honecker mal nachahmt. Die haben nur Kohl drauf. Oder Willy Brandt. Ich würde gern mal hören, wie sie Honecker durch den Kakao ziehen.
Jeden Tag bin ich dankbar dafür, daß ich da drüben nicht leben muß. Wie gut, daß ich’56 gleich rüberging. Und dann die sonnigen 50er Jahre, Göttingen! Milchbars und Pettycoats …
TV: Foto von einer Fleischerei in Polen, die Regale absolut leer, außer ein paar Konserven. Polen! Ein Agrarland, in dem es früher alles im Überfluß gab. - In der SU verrottet ein Drittel der Ernte, weil Lagerhäuser fehlen. Kohl hat der DDR 300 Millionen gegeben, damit sie anfangen, ihren Elbe-Dreck zu klären. Dieses Geld landet vielleicht auch in Nicaragua; anzunehmen ist es.
Die australischen Mädchen. Kathrine und Ulrike. Die eine hat einen schnellen Witz, die andere sieht aus wie Liv Ullmann, diese schwedische Schauspielerin - ist also nicht
Weitere Kostenlose Bücher