Alkor - Tagebuch 1989
wieder in Ordnung. Der hat meinen«bürgerlichen Roman»geadelt.
Die Familie habe jetzt, was mich betrifft, eine Kurskorrektur vorgenommen, sagt Vetter Walther. Alles in allem hat sie sich fair verhalten.
Nartum
So 30. Juli 1989
Welt am Sonntag: Staatsministerin Adam-Schwaetzer betont Gemeinsamkeiten von FDP und SPD
Sonntag: Leere Stellen sind verboten. Werner-Tübke-Ausstellung in der Nationalgalerie Berlin. Von Reinhart Grahl
T: Geträumt, daß ich Langzeithäftling bin, in Sachsen, und zwar bin ich mit einem andern einziger Häftling, und wir werden sehr human behandelt, werde z. B. von einer alten Wachtmeisterin lange spazierengeführt, am Waldrand entlang. Wegen irgendeiner Verfahrenssache darf ich für einige Stunden nach Hause. Im Archivgang unseres Hauses treffe ich, von Polizisten umgeben, auf meinen Vater, der ein biederer Handwerksmeister ist, nun völlig taub. Er weiß nicht, daß ich eingesperrt bin, und doch ahnt er es. Ist sehr reserviert, um nicht die Fasson zu verlieren. Da umarme ich ihn zum Abschied, nie werden wir uns wiedersehen, und ich spüre bei dieser Umarmung, daß er mir verzeiht, und ich weine und weine und sage immer wieder:«Ich danke dir, ich danke dir! Ich danke dir!»Als wir, der einzige andere Häftling und ich, wieder in die Zelle geführt wurden, spüre ich, daß man dieses Zusammentreffen nur aus Freundlichkeit arrangiert hat. Ich weine immer noch und sage nun statt:«Ich danke dir, ich danke dir!»-«Ich sage nichts! Ich sage nichts!»
«Die Erlösung, die Befreiung, ich erwachte in Tränen. Und auch jetzt noch, während ich dies schreibe, rinnen die Tränen.
Bei all diesem nicht an Weiterleben nach dem Tode, an Seelen zu
glauben, die unerlöst um uns sind, ist schwer. Es war mir, als hätte ich ihn endgültig zur Erlösung verloren.«Befreit»von allem. Das Glücksgefühl ist unbeschreiblich!
Merkwürdig, daß man sich die armen Seelen besonders in windigen Nächten vorstellen kann. Wer sagt denn, daß sie uns nicht über die Schulter gucken? Und wieso sollten sie frierend im Nachthemd umherfliegen? Ich denke, sie sind wohlgenährt, sitzen beisammen im Wintergarten eines Hotels, rauchen, trinken … Wir müßten ihnen eine Ecke im Haus reservieren, wie das anderswo durchaus üblich ist. Aber niemandem was davon erzählen. Aber vielleicht denken die Seelen dann, wir wollten sie in dieser Ecke einsperren? - Sie können zu uns, aber wir nicht zu ihnen. Wir können sie nur zu uns zwingen, indem wir an sie denken. Vielleicht ist ihnen das lästig? Was ist mit den Seelen, an die niemand mehr denkt? Die Seele eines Bauern, der im 15. Jahrhundert gelebt hat? - Das Ausgraben von Hominidenknochen ist gegenüber einer Begegnung mit Seelen ja die reinste Bagatelle. Können sie uns helfen? Milliarden Seelen, haben sie ein Gewicht? Was richtet es an, wenn sie an uns denken? Wieso denken wir gleich immer an brennende Kerzen, wenn wir mit den Seelen in Beziehung treten? Auch Blumenopfer sind sinnlos. Setze dich in einen Stuhl und sage leise vor dich hin: Vater, dann steht er sofort neben dir.
Warm.
Gestern Schostakowitsch, die 4. Symphonie. Ich dachte, ich hätte sie noch nie gehört, da merkte ich im 2. Satz, daß ich mir dieselbe Aufnahme schon vor wenigen Wochen zu Gemüte geführt habe. Traurig.
Arbeit am«Sirius», bin einmal durch.
«Mark und Bein»liegt fest und rührt sich nicht. Ich stelle mir vor, daß der Text, soweit er vorhanden ist, nun fermentiert. Er setzt Rankenwerk an, und nicht etwa Schimmel. Er durchsäuert. Das gilt auch für weitere Stoffe in meinem Kopf, unmerklich werden sie hin- und hergeschichtet.
Auch«Echolot»wächst. Ich habe damit angefangen, Thomas Mann, Hesse u. a. einzugeben. Stölzls Ratschlag war richtig. Die Sicherheit, mit der er das sagte! Die Prominenz und die vielen Unbekannten. Der Haß des Intelligenz-Pöbels auf den Tagebuchschreiber Thomas Mann. Er hat das doch nicht für uns aufgeschrieben, er läßt uns ein wenig in die Karten gucken. Auch hat er selbst sich über die Lektüre eigener Tagebücher voll Unmut geäußert.
Mutter J. bekommt neuerdings Valium, weil sie durch die Stadt geistert. Sie wurde schon«aufgegriffen». Schleicht dahin. Das ist wie eine Fesselung. Aber wie soll’s sonst gehen? Wie machten es die Bauern früher? Sie schlossen die Alten ein. Tschechow-Geschichten großartig.
Mit Dierks’ in Bremen gegessen. Es blieb bei höflichem Interesse. Schade.«Ich besaß es doch einmal, was so köstlich
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