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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Prinzip vorführen zu können. Sie haben keine Phantasie, können sich nichts vorstellen. Wenn man sagt: Ich will das so und so machen, dann hören sie gar nicht zu. Wie Grass mir damals seine«Schnecken-Theorie»entwickelte - das kam mir auch sonderbar vor. Ist ja auch ein verrücktes Buch geworden. Deutsch im schlechtesten Sinne.-Besonders mißglückt sind die Kindergespräche.
    Die Leiche im eigenen Keller suchen, benennen. Ein Schriftsteller, Kinder, ist jemand, der den Mief liebt, um ihn benennen zu können, der von Mief lebt, indem er ihn benennt; eine Existenzbedingung, die der Nase Schwielen einträgt.
    «Echolot»: Es ist unglaublich, wieviele Texte sich für den 20. April 1945 finden. Es sind schon jetzt fast 30 Seiten. Das könnte eine erste Vorauspublikation werden. Möglich wäre auch ein mitgeliefertes Tonband oder eine Videocassette, etwa die Wochenschauen der betreffenden Woche.
    Hannover, Kestner-Museum 18 Uhr. Schlechte Akustik.
    Konzert für Oboe und Violine von Bach.
    «Die Widmung»von Botho Strauß. Sonderbar anachronistisch.
    «Noch lange, nachdem der Hitler-Staat zerschlagen ist …»schreibt er. -«Gleichzeitig gingen ihm seltsame Mißgeschicke und Unfälle von der Hand …»
    Im Bett das Witzbuch von Grass. Seine lexikalischen Schnecken-Kenntnisse. Daß nach einem solchen Buch der Autor nicht für immer erledigt ist?
    Plankton, in Hannover gefischt:

    Mein Großvater war sehr alt, sehr vergreist, hat dem Alkohol stark zugesprochen. Seine Wohnung war ganz dunkel, da saß er dann, Angst einflößend. Alles roch nach Zigarre, die Schwaden senkten sich auf die Möbel, deshalb war es wohl auch alles so dunkel. Ich sehe ihn noch im Erker sitzen.
    Manchmal war er auch bei uns. Er saß dann vor der Haustür, zum Ärger meiner Mutter, nahm sich einen Stuhl mit hinaus, und seine Schnapsflasche hatte er am Stuhlbein stehen. Es war ein Neubaugebiet und paßte da überhaupt nicht hin -wenn’s eine Arbeitergegend gewesen wäre … (Historiker, *1958)

Nartum
Do 3. August 1989
    Bild: Die Richter fragen/Silkes Mördergrinsen
    ND: Miteinander zum Wohl der Bürger in Stadt und Land
     
    Die Diskrepanz zwischen der Meinung, die andere Menschen von einem haben, und der Selbsteinschätzung. Da klafft einiges auseinander. Zwar beruht die Einschätzung anderer oft auf Mißverständnissen oder Zufällen, es wäre aber ganz verkehrt, sie grundsätzlich zu leugnen. C. G. Jung mit seiner«Anima». Ich bin dem mal nachgegangen und kam zu eigenartigen Erkenntnissen. Der Januskopf jedes Menschen. Ich ertappe mich dabei, daß ich Fotografen meine«Schokoladenseite»zeige.
    Ich halte mich im übrigen für häßlich, genauer gesagt: für dämlich aussehend. Auf manchen Fotografien gefalle ich mir. Sind sie unähnlich?
    Im TV ein Gespräch sogenannter Philosophen über die Wende der Marxisten. Das ist vielleicht ein Geblödel! Das neueste ist nun, daß sie die 68er als tragische Generation bezeichnen. Die habe sich damals mit ganzer Kraft und Überzeugung (aber wenig Gehirn) in die Reformen gestürzt (und alles kaputt gemacht), und nun müsse dieselbe Generation noch einmal die Kraft aufbringen, den Umbruch zu bewältigen. Die Armen! - Nun wird auch Solschenizyn fleißig zitiert, den sie vorher einen Faschisten
genannt haben. Die Medien benehmen sich hurenhaft, und«von hier bis da»ist ihre Devise. Kein Thema für mich. Zur Richter-Schelte eine Medien-Schelte. Das ist es, sie kommen sich wie Richter vor, und wir sind die Angeklagten.
    Sensationelle Nachrichten aus dem Ostblock, und die Linke im Westen verharrt in debiler Erstarrung. Jetzt verharren sie nur noch. Nicht bewegen! Sie stellen ein lebendes Bild. Das hätten sie nicht gedacht! Und uns, die wir’s immer gesagt haben, tun sie nun endgültig ab, das können sie nicht auch noch ertragen, daß da einer Recht behalten hat. Sie haben weder das Gras wachsen, noch die Flöhe husten gehört. Und daran sind wir schuld. TV:«Die blauen Berge». Russischer Film über einen Schriftsteller, der sein Manuskript nicht loswird, die Leute im Verlag gammeln so herum, schließlich stürzt das marode Haus, in dem nichts repariert wird, zusammen. Eine Allegorie auf die Zustände in der SU. Wunderbare, psychologisch treffende Karikaturen der Menschen. Einen solchen Film können nur die Russen machen. Sie haben auch den Humor, der uns so fehlt. Für den hier auch niemand Verständnis hätte. Hier muß alles ernst (sauer) sein, und wenn sie komisch sein wollen, werden sie kitschig. -

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