Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
heraus und schnitt Passepartouts. Sogenannte Anmutungsfotos. Ich sammle sie in einem speziellen Kasten, das ist mein Schatzkästchen.

April 1989

Nartum
Sa 1. April 1989
    Bild: Das Vergewaltigungsdrama auf Zypern / Totschlag! / Berliner Mutter und Tochter angeklagt
    ND: Aussprache mit Wählern über kommunalpolitische Vorhaben
     
    Kaufte 10 Audio- und 6 Videokassetten: 133 DM.
    Ekelhafter Tag. Aber wenigstens hat mich niemand in den April geschickt. Die In-den-April-schick-Geschichte von Thomas Mann.
    Hildegard kommt weinend mit zwei Singvögeln auf der Kehrichtschaufel. Eingedenk der sechs Mio. Singvögel, die pro Jahr im Süden gefangen werden, nimmt sich ihr Kummer seltsam aus. Außerdem hat sie jetzt festgestellt, daß alle Tannen vom Wurm befallen sind. Ich werde also meine Runden eines Tages um einen Baum-Friedhof herum drehen müssen. Hier im Sinne Jüngers reagieren: die verschiedenen Würmer fangen und unterm Mikroskop betrachten. Vielleicht stellt sich dann ja doch so was wie Sympathie ein.
    Schwiegermutter war heute aggressiv. Sanguinisches Gemüt kann leicht in ein aggressives umschlagen, das lernt man nun. Verstehen kann man’s, aber aushalten will man’s nicht. Zu ihrer Einsamkeit kommt ja noch, daß sie als Süddeutsche in einem norddeutschen Kaff gelandet ist. Versuche, mit ihr in ein Tonbandgespräch einzutreten, sind natürlich Mißerfolge. Sie will nicht das Interesse an ihren Lebenserlebnissen, sondern an ihr selbst. Sollte man sich denn vor sie hinhocken und sagen: Du bist eine wundervolle Frau?
    Die Arbeit am«Echolot»: Frau K. bis ins Jahr’44 eingegeben.

    Sehr wertvoll für das Ganze. Wunderbar, daß sie ihre Biographie bis in die Nachkriegszeit vervollständigt hat.
    Eine Begebenheit aus dem Herbst 1942 möchte ich noch erzählen. Gegenüber unserer Wohnung war eine Gastwirtschaft mit einem Bierschalter. Oft lief ich abends mit dem Bierkrug dahin, um zum Abendessen einen Liter Bier zu holen. Die Häuser waren verdunkelt, und die Straßen hatten ebenfalls keine Beleuchtung, nur im Eingang zu der Gastwirtschaft brannte ein winziges blaues Lämpchen. Dort war auch der Schalter zum Bierholen. Eines Abends, als ich mal wieder dort Bier holte, sprach mich ein blutjunger Soldat an. Er stand so herum, wußte nicht recht, was er mit sich und seinem freien Abend anfangen sollte. Er tat mir leid, doch sagte ich ihm, daß ich nicht ausginge und schnell nach Haus müsse, weil man auf das Bier wartete. Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief von ihm. Er hatte bei den Gastwirtsleuten meinen Namen erfragt, die Adresse selbst herausgefunden und sich gleich irgendwo hingesetzt und mir geschrieben. Seine offenen Worte rührten mich und zeigten mir die grenzenlose Einsamkeit eines 18jährigen Jungen, der in eine Uniform gesteckt in einem miesen Provinznest auf seinen Einsatz als Vaterlandsverteidiger wartete.
    Es ist jammerschade, daß ich hier nicht ausführlicher werden kann. Und ewig schade, daß sich für ihre Geschichte kein Verlag finden wird. Und bei uns wird sich ihr Schicksal unter anderen verlieren.
    Warum kann ich nicht mal ein paar Wochen in Ruhe arbeiten? So wie Mensak sich das vorstellt, müßte ich leben. Aber schon, wenn ich den«Spiegel»lese oder fernsehe, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ein verordnetes Lebenswerk lastet auf mir. Da gibt es kein Wenn und Aber.
    Die Groß-Lösung auch voll Wenn und Abers. Nun scheut Kersten die Sache. Meint, es wäre doch nicht so gut, Archiv und Haus zu verkaufen und öffentlich zu machen. Da liefen dann Leute durch mein Wohnzimmer, und Volkshochschulen kämen dauernd angeeiert. - Ich habe eher Horror vor einem Hausmeister und vor Coca-Cola-Automaten in der Bibliothek. Den Wald würden sie sofort abholzen und dort ein Gästehaus hinbauen.

    Die Video-Sammlung wächst. Leider heute einen Film von 1939 verpaßt:«Frau ohne Vergangenheit». Mittags werden manchmal gute Filme gezeigt, da muß man höllisch aufpassen. Insgesamt läßt sich sagen, daß die deutschen Filme aus dieser Zeit durchaus mit den Hollywood-Streifen vergleichbar sind: Sie sind genauso schlecht.
     
    1999: Die Video-Sammlung ist inzwischen auf 660 Titel angewachsen, für die«Ortslinien»unverzichtbar. Allein für 1939 zähle ich 25 Titel.
     
    Später einmal in einem achteckigen Panoramagebäude acht Filme aus einem Zeitraum gleichzeitig laufen lassen, ohne Ton . Und man sitzt dann in der Mitte auf einem Drehstuhl wie in dem Film«Raumpatrouille»und gleitet von einem zum andern.

Weitere Kostenlose Bücher