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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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in den Biographien von Frauen (Archiv) fehlen oft die genauen Zeitangaben, das ist mir schon aufgefallen. Bei«männlichen»seltener (Gombrowicz, Grass’ Indientagebuch).
     
    2000: John Cheever, leider auch undatiert! - Kaschnitz in der Gesamtausgabe sehr wohl datiert. Auch«Tage,Tage, Jahre»: Dort fehlt dann allerdings die Angabe des Jahres, erst nach langem Suchen und Vergleichen kriegt man raus, daß es sich um 1967 handelt. So was verdirbt den Appetit.
     
    Passepartouts geschnitten. Manche Fotos werden erst unter der Einrahmung bedeutsam.
    Hildegard trank heute vor dem Essen einen klaren Schnaps aus einem Weinglas. Sie dachte wohl, ich merke das nicht. - Da ist mir Knoblauch-Gestank schon angenehmer.
    Kohlrouladen. Wenn das man gut geht.

Nartum
Mo 3. April 1989
    Bild: Vorsicht! Dieser kleine Mann vergewaltigte 5 starke Frauen/«Für unsere Vereinbarungen gilt deutsches Recht», steht im Vertrag
    ND: Taten der Jugend für ihr sozialistisches Vaterland
     
    Schlimme Nacht, Koliken und phasenhaftes Erbrechen. Also doch: die Kohlroulade. Zwischendurch, wenn’s nachließ, las ich ein Ostpreußentagebuch, das Heizkissen auf dem Leib. Die Flucht der Ostpreußen ist dramatischer als die der Schlesier. Bei den Schlesiern gab es viele, die nach’45 zurückkehrten. Die
mußten dann ein halbes Jahr später wiederum die Koffer pakken. Was das Erbrechen anging: Ich konnte es so laut tun, wie ich wollte, Hildegard hörte es nicht. Sie sprach mir folglich keinen Trost zu. Wenn man schon«bricht», dann will man wenigstens was davon haben. - Hinterher immer die Besserung, sie setzt unverzüglich ein. - Meine urtümlichen Geräusche lockten die Katze an, die sowas wie Interesse zeigte. Das Schnurren der Katzen ist physiologisch bis heute nicht erklärbar, lese ich. Und: Es wird nur im Verkehr mit Menschen angewandt.
    Hildegard spricht von«Bruch»-Volk, weiß nicht genau, wen sie damit meint. Ich kenne diese Kategorie auch. Laut darf man so was nicht äußern.
    Joachim Fest«Das Gesicht des Dritten Reiches». Wieso ist dieses Buch nicht allgemein bekannt? Groteskes über Bormann. Was man alles nicht weiß.
     
    1999: Leider bekamen wir für«Echo II»die Abdruckrechte der Bormann-Briefe nicht. Er hat zum Teil auf die Briefe seiner Frau seine Antworten oder Kommentare geschrieben und sie dann zurückgeschickt. Sie existieren nur auf Englisch, da gibt’s Leute, die haben das Eigentumsrecht.
    An Hitlers«Mein Kampf»hat der Bayerische Staat die Rechte. Man kriegt das Dings in jedem Antiquariat, es kostet 200 Mark.
     
    In einem Poesiealbum lese ich unter dem 3. April 1889:
    Im Glück nicht jubeln und im Sturm nicht zagen,
Das Unvermeidliche mit Würde tragen
Und fest an Gott und bessere Zukunft glauben:
Heißt leben, heißt dem Todt sein Bitteres rauben!
    Zum freundlichen Andenken
Ihre Jenny Tann, geb. Rose
Güntersberge im Harze,
den 3. April 1889
    Also heute vor 100 Jahren.

Nartum
Di 4. April 1989
    Bild: Mord!/Roger Whittakers Vater tot im Lehnstuhl
    ND: Michail Gorbatschow in Kuba von Fidel Castro herzlich begrüßt
     
    Heute starker Wind, unangenehm kalt. Die Katze war schmusig. Uns verband das gemeinsame nächtliche Erlebnis.
    Es war ein schöner Erfolg gestern in Hamburg,«Literalia»nannte sich das Unternehmen, ich sollte über meinen«Anfang»sprechen. Ich hatte mir alle Einzelheiten auf Zettel notiert. Als ich am Pult stand, entschloß ich mich im letzten Augenblick, frei zu sprechen, nahm Augenkontakt auf, und es ging wunderbar. Keine Spur von Lampenfieber, sehr genossen.
    Nettes, vorwiegend junges Publikum. Ich guckte mir die Gesichter an, während ich sprach. Sie nickten mir zu. Noch zum Publikum: Junge Damen mit Haarfrisur wie Kakadu. Diese nickten mir nicht zu. Und ich dachte, während ich sprach, an meine wirklichen Anfänge, wie kümmerlich war das alles, und wie«fremdbestimmt»? Einen Herrn hörte ich beim Hinausgehen sagen:«Er war einfach, ohne simpel zu sein.»
    Ich saß hinterher mit einigen Exemplaren der Gattung Jugend noch etwas im Alten Rathaus. Etablierte Leute, äußerst konservativ. Die Veranstalter waren wie weggeblasen. Ich dachte immer, wir müßten uns noch«tschüß!»sagen. Einen Blumenstrauß ließ man für mich auf dem Podium liegen. Was fängt man mit dem stinkenden Zeug an?
    Es wird schwierig sein, im«Echolot»die rechte Balance herzustellen. Am besten das Ganze stückweise vornehmen, tageweis. Heute hab’ ich errechnet, daß pro Jahr mindestens 1800 Eintragungen zu erwarten sind.

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