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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Das ergeben dann am Ende sicher 1000 Seiten. Wie soll ich das unter Kontrolle halten?
    Es häufen sich seelsorgerliche Gespräche mit Einsendern. Mrongovius telefoniert alle drei Tage, erzählt mir von seiner Frau, deren Augenlicht nachläßt. Wie wird es uns zumute sein, wenn wir 80 Jahre alt sind!

    Die tapferen Widerstandskämpfer im TV, heute die französisch radebrechende Marianne Koch. Martin Held als deutscher Offizier mit Ritterkreuz rollt mit den Augen. Die Koch sagt ihm als tapfere Französin energisch die Meinung. Und er zeigt sich beeindruckt. - Also Scheiße. - Die Wirklichkeit sah anders aus. (Als ob es bei Filmen um so etwas wie Wirklichkeit ginge. Ich ließe mir jede Verzerrung gefallen, wenn sie im Dienste der Wahrheit vorgenommen würde.)
    Als ich heute Nacht auf mein Zimmer ging, rief Hildegard mir aus dem Klo nach:«Gute Nacht, Liebster!»
    Film über einen Papageiensammler. Der Mann sammelt alle Papageien, die es gibt. Lebendige natürlich. Die Nachbarn haben sich schon beschwert. Ich möchte gern ein solches Tier besitzen, ich würde es im Saal frei fliegen lassen. Ein Reklame-Papagei müßte es sein.
    Postpanik. Überall liegen Briefe, Pakete. Auf jedem Tisch Stapel von Papier, dazwischen totgegilbte Ohrenkneifer und Fliegen. Auf dem Fußboden, in jedem Zimmer Bücher. Ich muß da irgendwie durch.
    Ich wollte einen Nagel einschlagen, da fiel gleich die ganze Wand herunter.

Nartum
Mi 5. April 1989
    Bild: Die Abkassierer der Nation/Pensionär Behnke, Pensionär Hellenbroich, Pensionär Schleifer, Pensionär Kolbe/Im Supermarkt /Berliner Polizist verbrannte sich
    ND: Kollektive erklären: Wir gehen mit erfüllten Plänen zur Wahl
     
    Zum ersten Mal wieder im Studio gefrühstückt. Am Himmel war reger Betrieb, Krähen auf dem frischgepflügten Feld, eine Taube. Und schließlich ein einzelner Reiher. Ich fragte mich: Wo will er hin? - Als ich dann hinausging, meinen Spaziergang zu absolvieren,
war ich sogleich eingehüllt von infernalischem Scheißhausgestank: Jauche, die ein Bauer aufs Feld«aufbrachte», damit das Korn besser wächst. - Vom Nachbarn her der bohrende Lärm eines Kultivators, womit der Gartenboden aufgelokkert wird. Und schließlich zwei Düsenjäger im Tiefflug, die Jagd aufeinander machten. Also ins Haus retirieren und arbeiten.
    Ich hab’ mich immer darüber gewundert, daß Hitler in seinen Reden die Zuhörer gesiezt hat. Goebbels dagegen:«Wollt Ihr den totalen Krieg?»- Man stelle sich vor, er hätte geschrien:«Wollen Sie den totalen Krieg?»
    Daß gestern niemand ein Buch signiert haben wollte, hat mich richtig gefreut. Hoffentlich bereuen sie das mal.
    Den ganzen Tag arbeitete ich am«Echolot». Starke Zweifel, ob die Arbeit überhaupt zu schaffen ist.
    Hildegards Skrupel wegen ihrer Mutter, ob es richtig war, sie zu den Diakonissen umzuquartieren. Nun, es geht ihr dort ja nichts ab. Sie hat ihre eigenen Möbel, lebt im Mutterhaus, sie wird besucht von Freundinnen, mit denen sie früher im Literaturkreis Böll las, kann uns besuchen. Aber wenn sie hier ist, will sie nach Rotenburg. Wenn sie in Rotenburg ist, will sie hierher, das ist die Rache der Alten an den Jungen, sie wollen in Schach gehalten werden. Die Unrast auch, das Auf-die-Reise-Gehen. - Was würde sie weniger quälen? Auch die im Schoß der Familie Aufgenommenen werden gequält und quälen. Die Großmutter als Statussymbol. Horrorgeschichten von anderen Groß- oder Schwiegermüttern, daß die nachts ums Haus herumrennen.«Wo seid ihr denn? Wo seid ihr denn?»
    Ich überlegte mir, wie ich mich verhalten werde, wenn ich alt bin. Ich werde unheimlich verständnisvoll mit der Jugend sein. Immer in meinem Stübchen sitzen und brav Fernsehen gucken. - Sind alte Menschen denn nur zu ertragen, wenn sie die Schnauze halten? Sie stinken - das ist die Wahrheit.
    Großeinkauf von Büromaterial in Rotenburg: 135 DM.
    Hildegard hat den Munterhund gewaschen. Er liegt mit einer Decke bedeckt bei ihr auf dem Sofa und guckt leidend.
    Mir wurde bei der Vorbereitung zu dem Hamburg-Vortrag klar,
wo die Quelle liegt, die mich antreibt: Es ist die Heißmangelsache 1935.
    Meine Mutter hatte mich anstelle meines Bruders zum Helfen mitgenommen. Beim Ausrecken eines Bettlakens passierte es, daß ich das Tuch losließ.«Deinem Bruder ist das nie passiert!»sagte sie. Bis heute pulsiert dieser für mich ungünstige Vergleich und spornt mich zu Höchstleistungen an. Die Mangel, selbst alles niederwalzend, (Mangel auch anders ausdeutbar vom

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