All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
Krankheit litt, einer Art Persönlichkeitsdissoziation? Sie verstehen – wenn sich die eigene Persönlichkeit in mehrere aufspaltet?«
Die Tante runzelte die Stirn. »O nein. Zumindest gibt es in der Familie keine Vorgeschichte in der Richtung.«
Jury nickte. Falls eine Art von gespaltener Persönlichkeit vorlag, was würde das dann für diesen Fall bedeuten? Es war bestimmt nicht eine von Mariahs diversen Persönlichkeiten, die die beiden anderen Frauen umgebracht hatte. Schließlich war Mariah als Erste gestorben.
Jury stand auf, bedankte sich bei Edna Cox und versicherte ihr, alles zu tun, was in seiner Macht stand, was also, wie sie beide wussten, gar nichts war. Trotzdem bot er es an. »Ich fahre dann zurück nach London. Meine Karte haben Sie? Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen können. Tun Sie das, wenn Sie mich brauchen.«
Sie fühlte sich getröstet und verabschiedete ihn.
45. KAPITEL
Dr. Phyllis Nancy schälte sich die hauchdünnen grünen Handschuhe von den Fingern und warf sie in den Abfallbehälter auf dem Tisch, wo die tote Deidre Small lag, geschrumpft, ausgehöhlt, eingefallen.
»Ich wollte mir die Schusswunden noch mal ansehen und welchen Weg das Geschoss genommen hat. Euer Tatverdächtiger, der Kunde, mit dem sie verabredet war – falls er überhaupt verdächtigt wird …« Phyllis schaute in ihre Aufzeichnungen.
Jury nickte. »Nicholas Maze. DI Jenkins glaubt nicht, dass er es war.«
»Jenkins hat wahrscheinlich recht. Soviel ich weiß, ist Maze ziemlich groß. Das Opfer war ziemlich klein. Der Einschuss wäre folglich ganz anders …«
»Selbst aus nächster Nähe?«
Sie nickte.
Jury betrachtete Deidre Smalls Gesicht, aus dem jeder Ausdruck getilgt war, und wusste doch, welche Mienen sich einst darin gespiegelt hatten: ein aufgesetztes Gesicht war es gewesen, ein Gesicht, das sie zur Schau getragen hatte, um den Erwartungen ihrer Umgebung gerecht zu werden. Ihre Herkunft, ihre Tätigkeit, ihre zierliche Gestalt hatten sie wohl zu vielen Zugeständnissen gezwungen. Vermutlich mehr als die intelligente, schöne Kate Banks oder die zwiespältige Mariah Cox.
Ach, ihr drei, dachte er. Grundlos gestorben, für nichts, umgebracht, weil ihr irgendwie unbequem wart, ermordet wegen anderer Leute Habgier, Wut, Furcht oder Schuld. Wie lasst ihr euch miteinander verbinden? Wie ähnlich wart ihr einander?
Er hob den Kopf, deutete auf Deidre Smalls Leiche. »Was hat sie dir erzählt, Phyllis?«
»Nicht annähernd so viel«, erwiderte Dr. Nancy mit einem Anflug von Lächeln, »wie dir. Abendessen?«
Er nickte. Sie band sich den Laborkittel ab, ging ihre Sachen holen, und sie verließen die Gerichtsmedizin.
»Die Neurologen«, sagte Phyllis, »haben nicht viel Hoffnung. Aber das ist ja wohl keine Überraschung.«
Jury begutachtete seinen kross gebratenen Fisch, den sonst Wiggins immer gern bestellte, nicht er. Wie ein Puzzlespiel sah er aus.
Phyllis blickte ihn aufmerksam an. Sah er etwa selbst wie ein Puzzle aus? Er blieb die Antwort auf die Prognosen der Neurologen vorerst schuldig. Ihm fiel nichts ein.
»Du weißt nicht, was du sagen sollst.« Sie legte den Kopf schräg. »Du konntest da nichts machen, Richard. Du kannst auch jetzt nichts machen.«
Er wehrte kopfschüttelnd ab. »Ich weiß. Es geht nicht so sehr darum, was ich tun könnte als vielmehr um das, was ich fühle. Fühlen sollte.« Er sah von seinem Fisch hoch, dann wieder hin. Er war nicht besonders hungrig.
»Zwiespältige Gefühle sind …«
»Es ist mehr als nur das. Oder weniger.« Jury lehnte sich zurück und ließ den Blick über das Restaurant schweifen, das wie immer brechend voll war. Hier machten ihm die Menschenmengen nichts aus, die Gäste, alles wildfremde Leute, erschienen ihm vertraut. Die vertraute Geräuschkulisse hatte etwas Behagliches. Er erblickte Danny Wu, der sich über einen Tisch gebeugt eifrig um das dort sitzende Paar bemühte. Danny konnte einen ganzen Saal bespielen, wie ein Politiker. Jury lächelte. »Das hat hier so etwas Tröstliches.«
»Ja, das stimmt. Es ist ein heimeliger Ort, eine Art Ersatzzuhause, was auch immer das sein mag. Für mich ist das die
Apotheke bei mir in der Nähe. Klein, ein bisschen heruntergekommen, aber ich gehe gern hin. Es gibt dort sogar einen gemütlichen Sessel, da sitze ich und studiere die Aufkleber auf den Medikamenten.«
»Phyllis …« Er lachte, eher erfreut als verwundert. Diese Frau war so kultiviert und gebildet. Und noch dazu schön. Und reich.
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