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All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman

Titel: All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Woher ihr Geld kam, war ihm ein Rätsel.
    »Für manche ist es ein bestimmter Typ von Laden, für andere sind es Buchhandlungen – es muss auch kein fester Ort sein, den man als Zuhause betrachtet. Für einen Künstler sind es vielleicht Farben, für einen Schriftsteller Worte.« Sie schnitt ein Stückchen Fisch ab und seufzte versonnen.
    »Heute früh war ich im Krankenhaus«, fuhr sie fort. »Einer von ihren Ärzten ist ein guter Freund von mir, der hat es mir gesagt. Es ist immer noch möglich, dass sie wieder zu sich kommt, Richard. Das macht die Entscheidung so schwer – Lus Onkel war übrigens dort.«
    Jury wartete ab.
    »Er ist der engste Verwandte, den sie hat, behauptet er jedenfalls.«
    »Hast du ihn gesehen?«
    Sie nickte. »Ja, er war mit Dr. McEvoy dort. Meinem Freund.«
    »Lu hat mir ein wenig von ihm erzählt, von dem Onkel. Sie hing sehr an ihm. Ansonsten hat sie nie über ihr Leben gesprochen.« Er nahm die Essstäbchen, hantierte ungeschickt damit herum. »Was bleibt jetzt noch?«
    »Es tut mir wirklich so leid, Richard.«
    Es klang ernst.
     
    Das Krankenhaus war keiner von Phyllis’ »heimeligen Orten«, dachte Jury, fand aber, dass sich das Pflegepersonal redlich bemühte, es nicht zu fremd anmuten zu lassen.
    Eine Krankenschwester, großmütterlicher Typ, klein und rundlich, deren Namensschildchen an der Schwesterntracht sie
als Mae Whittey auswies, trat hinter dem Anmeldeschalter der Station hervor, um ihm mitzuteilen, Ms. Aguilar sei am Vormittag verlegt worden und sie würde ihn auf ihr Zimmer bringen. Er wollte nicht wissen, welche Abteilung, denn er fürchtete sich vor der Antwort. Vielleicht war es die Station für die hoffnungslosen Fälle.
    Schwester Mae Whitteys kreppbesohlte Schuhe machten beim Gehen leise Schmatzgeräusche. Eines der Zimmer, an denen sie vorüberkamen, werde gerade »frisch hergerichtet«, sagte sie, daher die dicke, schwere Plastikplane vor dem türlosen Durchgang. Der Anblick erinnerte Jury an diese provisorischen Zelte, wie sie über Ausgrabungsstätten errichtet werden.
    »Vorsicht, die Werkzeuge«, sagte sie, auf einen Eimer und ein paar Geräte deutend, die seitlich an der Wand liegen geblieben waren. Ihre Rolle war weniger Krankenschwester als Fährtenführerin durch eine Ausgrabung, die darauf achtete, dass Jury nirgends einen falschen Fuß hinsetzte.
    Ihre Schritte hallten in dem lautlosen Korridor wider. Er verstand nicht, wie es so still sein konnte, denn viele Zimmertüren standen halb offen.
    »Hier wären Sie«, sagte sie, doch es sollte anscheinend bedeuten »Hier wären wir «, denn sie ging mit ihm zusammen hinein.
    Als wäre sie Teil dieser Kleinfamilie, stellte sie sich neben ihn und betrachtete Lu Aguilars reglose Gestalt, ruhig wie eine bildhafte Darstellung in einer Kirche. Und doch war Schwester Whitteys Anwesenheit seltsam unaufdringlich. Jury war ihr insgeheim sogar dankbar. Er erinnerte sich, wie schwer das Alleinsein auf ihm gelastet hatte, als vor zwei Monaten, im März, seine Cousine Sarah oben in Newcastle gestorben war. Ein paar Stunden lang war er in London umhergelaufen, unfähig, auf einer Parkbank zu verweilen, in einem Café oder auch in seinen eigenen Gedanken zur Ruhe zu kommen. Einsamkeit fühlte sich an wie Verwaistsein.

    Das Zimmer sah genauso aus wie das vorige, nur dass hier frische Blumen hingestellt worden waren. Blühende Orchideenzweige, die prächtigsten, die er je gesehen hatte, standen in einer Vase auf dem Nachttisch. Dabei fiel ihm auf, dass er jedes Mal mit leeren Händen gekommen war. »Jemand war auf Besuch hier. Ihr Onkel?«
    »O nein, die hat Dr. Nancy gebracht. Sind sie nicht herrlich? Diese Rottöne. Brasilianische Orchideen, sagte sie. Ms. Aguilar stammt ja anscheinend aus Brasilien. Dr. Nancy meinte, etwas aus ihrem Heimatland würde ihr bestimmt gefallen.« Schwester Whittey lächelte. »Ja, so ist sie. Doktor Nancy, meine ich.« Sie wandte sich zu ihm. »Sie kennen doch Dr. Nancy, nicht? Ich glaube, sie hat von Ihnen gesprochen. Ich dachte mir, sie ist vielleicht selbst mit der Patientin befreundet, aber sie sagte, nein, sie sei bloß die gute Freundin von einem guten Freund.«
    »Ja.« Jury wusste nicht, was er sagen sollte.
    »Es tut mir so schrecklich leid«, sagte Mae Whittey. Sie blickte auf Lu hinunter. »Sie ist noch so jung.«
    Allen Regeln des Protokolls nach hätte die Krankenschwester natürlich den Raum verlassen sollen, damit er allein sein konnte. Doch blieben sie ein paar Momente in

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