All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
nichts mehr wird. Es kann weniger oder mehr erschütternd sein.«
Weniger oder mehr . Du liebe Güte, damit war ja wohl alles gesagt, oder?
Der Arzt hatte ihm auch noch etwas anderes mitgeteilt. » Sie wollte nicht, dass irgendwelche heroischen Maßnahmen ergriffen werden.«
»Was meinen Sie damit?« Jury wusste genau, was der Arzt
damit meinte. Doch er wollte sich von dem, was es bedeutete, distanzieren, buchstäblich einen Schritt davor zurücktreten.
Der Arzt hatte freundliche Augen und war ziemlich jung. Er hatte ein Blatt Papier aus einer Mappe gezogen, das er Jury überreichte. »Sie will nicht mit Maschinen am Leben erhalten werden.«
Alles in ihm sträubte sich. »Heroische Maßnahmen.« Was für ein bemerkenswerter Euphemismus!
Weiß. Das war alles, was er sehen konnte, als wäre er plötzlich in die Arktis geraten: die Flure, die Wände, die Laken, ihr Gesicht.
Es gab nur diese Stille in ihrem Zimmer. Bis auf das regelmäßige Klingeln oder Stottern von Monitoren und Maschinen gab es nichts.
Er nahm ihre Hand und stellte fest, dass sie kalt wie Marmor war. Einen panischen Augenblick lang dachte er, sie sei tot und beugte sich dicht über ihr Gesicht, bis er ihren schwachen Atem spürte. Cordelia. Der gebrochene Lear und Cordelia. »Na komm schon, Lu. Komm zu dir. Na komm.« Er rüttelte an ihrer Hand, so wie es jemand bei ihm gemacht hatte, erinnerte er sich, als er klein war. Irgendein Erwachsener, der gemerkt hatte, dass seine Aufmerksamkeit nachließ, rüttelte ihn wieder wach.
Jury blieb noch ein paar Minuten sitzen und schaute sie an. Dann stand er auf und ging im Zimmer hin und her, blieb bisweilen stehen, um sie erneut anzusehen. Sie erinnerte ihn an eine Puppe, ein lebloses Abbild ihrer selbst. Detective Inspector Lu Aguilar, die unvergleichliche, gebieterische, unnachgiebige Lu, nun reglos versteinert und hilflos. Jetzt war ihm, als würde er nie begreifen können, was er eigentlich für sie empfunden hatte. Oder sie für ihn.
Jury wandte sich zum Fenster und schaute hinaus. Beim Anblick von schattigem Gras in der Ferne dachte er: Es sollte mit Schnee bedeckt sein. Schnee sollte sämtliche Formen unkenntlich machen, so wie das Laken über ihrer Gestalt, hochgezogen bis über beide Schultern.
Krankenschwestern in Weiß kamen ab und zu herein, um Schläuche zurechtzurücken und Flüssigkeitsmengen zu überprüfen und einen Blick auf die Maschine zu werfen. Sie lächelten und gingen wieder hinaus. Eine – vielleicht war es immer dieselbe – sagte etwas von Besuchszeiten. Jury nickte, obwohl er es nicht recht gehört hatte, und blieb. Wie lange, wusste er nicht.
Schließlich stand er vom Stuhl auf, beugte sich hinunter und küsste sie auf die Stirn. Er war überrascht, dass sie sich nicht kalt wie Marmor anfühlte, sondern warm.
»Wach auf, Lu.«
Er meinte es ernst.
22. KAPITEL
Er verließ St. Bartholomew’s und lief, ohne den Blick zu heben, ein schmales Sträßchen nach dem anderen entlang. Sie schienen sich alle auf einen Punkt zuzuschlängeln, was ihm ein wohlig klaustrophobisches Gefühl vermittelte. Er kam sich vor wie ins Innere eines Schnurknäuels verwickelt. Stundenlang war er bis zur Erschöpfung gelaufen. Inzwischen war es dunkel.
Als sein Klingelton »Three Blind Mice« ertönte, zerrte er das verdammte Handy hervor (Orpheus hätte eins haben sollen, anstelle von Schnur). »Was?«
»Ich bin in der Bidwell Street. In der Nähe von St. Bride. Eine Frau wurde erschossen.«
Jury runzelte die Stirn. »St. Bride. Da sind aber wir nicht zuständig, Wiggins, das ist ein Fall für die City Police. Das ist doch direkt beim Revier von Snow Hill, stimmt’s?«
»Ich weiß. Die sind auch hier.«
Jury konnte die Geräusche im Hintergrund hören. »Na gut. Aber warum sind Sie dort?«
»Ich wollte noch mehr Informationen über Mariah Cox einholen. Sehen, was mir an Hinweisen ins Netz geht. Ein befreundeter Kollege ist bei Snow Hill, bei dem war ich gerade, als die Meldung hereinkam, und da bin ich gleich mit. Kann sein, dass ich mich irre, aber diese Frau – so Anfang dreißig, würde ich sagen, sehr attraktiv, todschick gekleidet – erinnert mich doch sehr an den Mord in Chesham.«
»Okay, ich bin in …« Ja, wo eigentlich? Er hob den Blick und erkannte die wohlvertraute Gegend von Clerkenwell, wo er und Lu Aguilar gemeinsam so viel Zeit verbracht hatten. Drüben am
St. John’s Square konnte er das Zetter Hotel sehen. Wieso war er hier? Als ob er es nicht wüsste. »In
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