All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
immer den kross gebratenen Fisch.«
Die kleine Frau schmunzelte, eine Entschädigung für die bösen Blicke, die immer noch in ihre Richtung schossen, denn es sah so aus, als sei die Schlange überhaupt noch nicht kürzer geworden. Keiner hatte sich auch nur ein Stückchen vorwärtsbewegt.
»Ich hatte aber gar nicht vor, das diesmal zu bestellen.«
»Klar hatten Sie.« Jury nippte Tee aus dem Tässchen in Fingerhutgröße.
Wiggins legte die Speisekarte mit einem gequälten Seufzer aus der Hand. »Ich glaube, ich nehme den kross gebratenen Fisch.«
Das Nicken der Frau glich eher einer Verbeugung. Sie tappte davon.
Das Ganze mutete wie eine kleine private Kabarettvorstellung an, denn der Nächste, der nun auftrat, war Danny Wu, der Besitzer. Heute ganz in Hugo Boss, noch einen Tick modischer als Armani, ein Designer, den Danny ebenfalls favorisierte. Er könnte gut als Fotomodell durchgehen. Zum taubengrauen Anzug trug er ein Hemd in blauem Schwertlilienton und eine um etliche Schattierungen dunklere Krawatte. Unter Jurys Bekannten war sonst nur einer so elegant gekleidet, nämlich Marshall Trueblood. Allerdings übertrieb Trueblood es bisweilen ins Flamboyante, was bei Danny nicht der Fall war. Beide riefen in Jury
den Gedanken wach, seine eigene Garderobe vielleicht einmal einer gründlichen Revision zu unterziehen, doch dann dachte er, welche Garderobe?
»Sind Sie beruflich hier?«
»Nein, nur so aus Spaß. Aber die Frage interessiert uns schon, wer den Toten vor Ihrer Tür hat liegen lassen.« Die diesbezüglichen Ermittlungen zogen sich bereits seit Monaten hin, wurden mal dem Drogendezernat, dann wieder der Mordkommission aufgedrückt, da man bei der Metropolitan Police der Auffassung war, dass es sich bei Danny um einen ernsthaften Anwärter auf den Titel des Londoner Drogenkönigs handelte – eine Auffassung, die Jury zum Lachen fand. Danny war viel zu gewitzt, um nach dieser Krone (die einem höchst unbequem auf dem Kopf sitzen würde) zu greifen. Und außerdem viel zu pingelig. In seinem eigenen Restaurant würde er nie einen Mann erschießen. »Es ist noch keiner dahintergekommen, Danny«, fuhr Jury fort, »wieso der ausgerechnet hier umgebracht wurde.«
»Wir sind in Soho, vergessen Sie das nicht! Hier liegen doch massenweise Tote vor der Haustür. In Soho ist Mord sozusagen an der Tagesordnung.«
»Danke für diese Lektion. Das war mir neu.«
Danny genehmigte sich ein Lächeln.
Jury wollte gerade etwas sagen, als er bemerkte, wie Phyllis Nancy sich an der Schlange vorbeischob und auf sie zusteuerte. »Phyllis!«
Sie wirkte ausgepowert. Ein Riesenhaufen Arbeit war nötig, bis sie einmal so müde aussah.
»Ah, die schöne Gerichtsmedizinerin«, sagte Danny, der ihr sofort von einem anderen Tisch einen Stuhl herüberzog.
Phyllis bedankte sich, und Danny empfahl sich dezent. Ihm war sofort klar, dass Phyllis etwas zu berichten hatte.
»Dachte ich mir, dass Sie hier sind«, sagte sie. »Ich komme gerade vom Krankenhaus. Es tut mir so leid, Richard, aber Lu Aguilar ist ins Koma gefallen. Heute Morgen ist es passiert.«
Jury sah Phyllis erschrocken an, doch der Schreck galt nicht nur Lus Zustand, sondern in gewissem Sinn auch seiner Reaktion darauf. In jenem kurzen Augenblick von brutaler Ehrlichkeit, wenn man vom Missgeschick eines anderen erfährt und sich nicht gegen die eigene Selbstsucht und Fühllosigkeit wehren kann – in ebenjenem flüchtigen Augenblick also empfand er nur Erleichterung. Dieses Gefühl musste er im Keim ersticken, den Moment aus dem Gedächtnis tilgen. Jury sprang auf.
Phyllis packte ihn am Handgelenk. »Du kannst jetzt nichts für sie tun. Sie wird gar nicht merken, dass du bei ihr bist.«
Nein , dachte er in kalter, neu gewonnener Selbsterkenntnis, aber darum geht es auch nicht.
Dann kam der alte Jury wieder zum Vorschein, der Mann, der sich vor zehn Sekunden noch von ganzem Herzen gewünscht hatte, Lu Aguilar möge sich erholen und ihr altes Leben in London wieder aufnehmen oder zumindest in einem anderen Land zurechtkommen.
Er überließ Wiggins den Wagen und das Essen und winkte sich ein Taxi herbei.
Im Stationszimmer hatte der Arzt ihm soeben mitgeteilt, dass die Chancen für Lu, aus dem Koma wieder aufzuwachen, nicht sonderlich gut standen. »Trotzdem, geben Sie die Hoffnung nicht auf. Manche Leute kommen wieder zu sich. Normalerweise innerhalb von zwei, drei Wochen. Wenn sie’s bis dahin nicht schaffen, nun, dann kann man davon ausgehen, dass es
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