All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
Eigentlich gehörte dieser Teil von London nicht zu den Einwanderervierteln.
Das galt eher für die Außenbezirke East Ham, Mile End oder Watford.
Er hieß Banerjee. Jury erkundigte sich bei Mr. Banerjee, ob er irgendetwas gesehen oder gehört hatte.
Der schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nie.«
»Kommt Ihnen diese Frau bekannt vor?«
Mr. Banerjee tat das Foto nicht gleich von vornherein ab, sondern betrachtete es eingehend. Er schreckte auch vor dem Anblick des toten Gesichts nicht zurück.
Jury rechnete mit einem sofortigen Nein, hörte jedoch ein nachdenkliches: »Ich glaube, ja, ich habe sie hier im Laden schon gesehen. Mehr als einmal.« Er sah durch die schwarze Scheibe hinaus, als hätte in der Dunkelheit etwas seine Aufmerksamkeit erregt. Doch es war bloß dunkel.
»Sie kennen sie? Wohnte sie hier in der Bidwell Street?«
»Ich denke schon, obwohl ich hauptsächlich Kunden aus anderen Straßen habe. Ja, wahrscheinlich wohnt sie hier in der Straße. Wohnte.« Betrübt betrachtete er das Foto. »Eine hübsche Frau. Vielleicht erinnere ich mich deshalb an sie. Sie hat Zigaretten gekauft. Ja, und Lebensmittel – Milch, Eier, Brot -, was man eben so braucht.« Er gab Jury das Foto zurück. »Tut mir leid, dass ich ihren Namen nicht weiß. Mehr kann ich Ihnen nicht helfen.«
»Sie waren bereits eine enorme Hilfe, Mr. Banerjee. Vielen Dank. Wenn Ihnen sonst noch etwas einfällt…« Jury gab ihm eine von seinen Karten.
»Ich rufe Sie an, ganz sicher.«
Als Jury aus dem Laden trat, setzte leichter Regen ein. Er stellte fest, dass mittlerweile weniger Autos an der Straße standen. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten eingepackt, die Leiche war abtransportiert worden. Wiggins stand mit Detective Inspector Jenkins, einem weiteren Kollegen und mehreren Uniformierten zusammen.
»Bis jetzt ist noch gar nichts bei der Befragung der Bewohner
rausgekommen. Wir waren in zwei Häusern, etwa vier oder fünf Wohnungen. Wir sind nicht sicher, ob ein fehlendes Namensschildchen bedeutet, dass eine Wohnung leer ist oder der Bewohner bloß gerade nicht da ist. Eine alte Dame wollte von gar nichts was wissen. Da hatten wir kein Glück.« Wiggins klappte sein Notizbuch zu.
»Egal. Inzwischen hat sich einiges ergeben. Der Lebensmittelhändler hat unsere besagte Dame mehr als einmal gesehen, sie wohnte also entweder in dieser Straße oder aber in der Nähe. Machen Sie weiter. Eine der Wohnungen könnte ihre gewesen sein.«
»Ist in Ordnung.«
»Ich gehe dann nach Hause. Ich bin müde.«
Wiggins deutete zu dem Grüppchen von Beamten hinüber. »Einer von denen kann Sie doch mitnehmen.«
»Nein, ich gehe lieber zu Fuß. Mein Gehirn auslüften. Wenn ich genug habe, schnappe ich mir ein Taxi. Gute Nacht.«
»Sir!«
Jury drehte sich noch einmal um. »Was?«
»Es wäre vielleicht gut, das Foto herumzuzeigen. Auf der Straße.«
»Können Sie machen, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass das Opfer sich nicht auf der Straße herumtrieb. Nicht so, wie die aussah. Und nicht mit dermaßen viel Geld.«
»Sie glauben, vielleicht …?«
Jury nickte. »Escort-Service.«
Wiggins lächelte grimmig. »Da hätten wir aber Glück.«
»Glück würde ich es nicht nennen.«
DER ALTE HUND IM TÜREINGANG
23. KAPITEL
Der alte Hund im Türeingang versuchte wacker, sich aufrecht auf den Beinen zu halten, die Anstrengung war jedoch zu groß, sodass sie einknickten und er sich hinlegen musste.
Der Eingang gehörte zu einem Lederwarengeschäft in der Farringdon Road, die Jury auf seinem Spaziergang durch Clerkenwell passierte. Das Metallgatter war über die Ladenfront zugezogen. Im Schaufenster standen eine Reihe von teuren Hartschalenkoffern, alle in Dunkelrot. Wer wohl all dieses Reisegepäck brauchte?
Jury kniete sich neben den Hund. »He, alter Junge.« Behutsam streckte er die Hand aus und ließ sie über die Flanke des Tieres gleiten. Er hätte die Rippen zählen können. Das Fell des Hundes, schwarz und weiß mit brauner Zeichnung, war ganz stumpf, die Haare blieben in Jurys Hand hängen. Vielleicht hatte der Hund die Räude, auf jeden Fall musste er versorgt werden.
Suchend hielt Jury auf der belebten Straße Ausschau nach der nächsten Nahrungsquelle, bis er den McDonald’s entdeckte, in dem er und Wiggins vor einigen Wochen Station gemacht hatten. Dort würde es wenigstens schnell gehen.
Drinnen bestellte er drei Hamburger und eine Flasche Wasser und fragte das Mädchen mit dem Trockeneisblick, ob sie vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher