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All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman

Titel: All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Erinnerung.«
    »Meine Güte, Richard, Sie schlachten Ihre dreißig Seiten ja weidlich aus! Das ist aber bloß ein Teil davon, verstehen Sie. Es muss eine Handlung geben, die die Erinnerung heraufbeschwört – die Madeleine, die kleine Musikphrase, die Serviette. Die begrabene Erinnerung …«
    Jury unterbrach ihn. »Verdammt, Sie haben aber von fehlerhafter Erinnerung gesprochen. Und dementsprechend die gesamte Aussage der kleinen Tilda über jenen Nachmittag damals zerpflückt!« Jury war drauf und dran, tätlich zu werden. Verdrossen betrachtete er sein Glas.
    »Und schauen Sie sich die Geschichte des anderen kleinen
Mädchens an – wie heißt sie gleich? Damit ich sie auseinanderhalten kann?«
    »Dora. Auseinanderhalten? Mehr ist das für Sie also nicht, alles bloß ein paar Geschichten.«
    Harry ignorierte den Einwurf. »Schauen Sie sich Tildas Geschichte einmal aus einer anderen Perspektive an.« Wieder drehte er sein Glas herum, bis das Licht es zum Funkeln brachte. »An dem besagten Nachmittag spielt ein Kind auf dem Anwesen eines großen, unbewohnten Landhauses, spielt mit Puppen oder Plüschtieren, und hebt den Blick und schaut über diesen trostlosen, vernachlässigten Garten …«
    »Ach, hören Sie doch auf, Ihre persönliche Darstellung einzubringen. Sie waren doch gar nicht …« Jury verstummte. Er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen.
    Harry lachte. »Fast hätten Sie gesagt, ›waren doch gar nicht dort‹. Das ist gut. Besonders weil das sogenannte Einbringen meiner persönlichen Darstellung deutlich zeigen würde, dass ich doch dort war.«
    »Waren Sie ja auch.« Jury riss sich zusammen, um nicht sein Weinglas auf Harrys Kopf zu zertrümmern. »Kommen Sie mir bloß nicht wieder damit, Harry. Versuchen Sie nicht, mich mit Ihren wendigen Argumenten zu verwirren. Ein zweites Mal falle ich nicht drauf rein.«
    »Ich war nicht dort. Lassen Sie mich zu Ende erzählen. Die Kleine blickt also über diesen stillen Garten in Richtung Terrasse, wo sie einen Mann sieht – nein, es waren zwei Kinder. Den Jungen habe ich vergessen …«
    »Timmy.«
    »Ja. Zwei waren es. Das klingt jetzt allmählich fast wie Die Drehung der Schraube . Und ich als der unheimliche Peter Quint.«
    »Sie würden einen armseligen Quint abgeben. Der war überhaupt nicht wie Sie. Außerdem war er tot.« Jury trank seinen Wein vollends aus.

    Harry lachte und machte Trevor ein Zeichen. »Dann behauptet das Mädchen, der Mann hätte sie beide verfolgt, eingefangen und entführt. Also, hört sich diese James’sche Wendung denn nicht frei erfunden an?«
    »Dass er ihnen die Augen verbunden und sie in seinem Keller gefangen gehalten hat, lassen Sie jetzt aber weg.«
    »Ach ja! Wie hatte ich das vergessen können? Das verleiht der Geschichte doch so eine realistische Note.«
    Trevor war mit einer Flasche herübergekommen. Er zwinkerte Jury zu. »Erzählt Mr. Johnson Ihnen wieder eine unglaubliche Geschichte, Mr. Jury?«
    »Genau das tue ich, Trevor«, erwiderte Harry. »Bloß dass es nicht meine Geschichte ist, sondern die von jemand anderem.« Er wandte sich wieder Jury zu. »Das ist alles, was Sie haben? Die Aussage von ein paar Kindern, die ihren Kidnapper nicht einmal beschreiben können.«
    »Sie haben übrigens Namen: Timmy und Tilda.«
    »Wahrscheinlich eher Hänsel und Gretel.« Harry zuckte die Achseln. »Woher sollte ich schon ihre Namen wissen?« Er lächelte. »Ich bin ihnen ja nie begegnet.«

28. KAPITEL
    Joey stürzte heraus, kaum dass Jury den Wagenschlag geöffnet hatte. Er machte sich quer über die weite Rasenfläche von Ardry End hinweg davon und rannte um die Hausecke, Jury im Schlepptau.
    Worauf steuerte er zu? Auf alles und nichts. Auf den Stall? Die Eremitage? Von Mr. Blodgett, dem hauseigenen Eremiten, war nichts zu sehen. Dafür erblickte Jury (und Joey vermutlich auch) Melrose Plants Pferd Aggrieved und seinen Ziegenbock Aghast, die, die Köpfe gesenkt, dort draußen hinter dem Stall grasten.
    Jury hatte inzwischen den rückwärtigen Teil des Hauses mit dem weitläufigen Küchengarten erreicht, wo ein Unbekannter vor der Küchentür stand. Wäre es ein professioneller Clown oder versprengter Varietékünstler gewesen, hätte Jury seinen Aufzug als Narrenkleid bezeichnet. Er trug ein verschossenes violettes Samtjackett, vermutlich eine abgelegte Hausjacke, einen grellfarbenen Schal um den Hals und ein Satinwestchen. Karierte Hosen vervollständigten das Ensemble. In einer Tasche steckte etwas, das nach

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